Leitl übergibt das Zepter
Christoph Leitl mahnt knapp vor Ende seiner WKÖ-Präsidentschaft Europa zur Einheit, ist für mehr statt weniger Freihandel und regt einen Wandel der Sozialpartnerschaft an. Im Rückblick sieht er etliche Erfolge, räumt aber auch schmerzhafte Rückschläge ein
Wien – „Wake up, Europe!“Mit klaren Worten versucht Christoph Leitl, den alten Kontinent wachzurütteln. „Wenn wir die Alarmglocken nicht hören, können sie für Europa zum Sterbensglöckerl werden“, sagte der scheidende Präsident der Wirtschaftskammer (WKO) am Donnerstag im Klub der Wirtschaftspublizisten. Der Kontinent sei drauf und dran auseinanderzudriften, anstatt zusammenzurücken. „Wenn wir zusammenhalten, sind wir auch noch in zehn, 20 oder 30 Jahren an der Spitze der Welt.“
Nationalismus ist für Leitl jedenfalls „kein Zukunftsmodell“. Er kritisiert etwa, dass unlängst Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel nacheinander mit jeweils nationalen Interessen statt gemeinsam als Europäer USPräsident Donald Trump besucht haben. „Ein fürchterliches Bild“, wie Leitl mit Blick auf den schwelenden Handelsstreit betont. Den Amerikanern sollte etwa das Angebot gemacht werden, beidseitig auf Einfuhrzölle für Autos (in Europa fünf, in den USA drei Prozent) zu verzichten. Generell sind aus seiner Sicht alle Zollschranken überhaupt entbehrlich.
Von China beeindruckt
Denn er sieht die Gefahr, gegenüber aufstrebenden Staaten wie China den Anschluss zu verlieren. Er sei noch „ungeheuer beeindruckt“von seiner Reise ins Reich der Mitte im April. „China hat klare Zielsetzungen, klare Maßnahmen und will an die Spitze“, erklärte Leitl, der Europa dazu rät, mit einer „effizienten Demokratie“dagegenzuhalten. Darunter versteht der 69-Jährige ein handlungs- und entscheidungsfähiges System ohne überbordende Bürokratie, jedoch unter Einhaltung der Menschenrechte und Einbindung der Bürger.
Diesen Prozess will der NochWKO-Präsident künftig aus anderer Position verfolgen, nämlich an der Spitze der europäischen Dachorganisation Eurochambers, der er seit Jahresbeginn vorsteht. In der Amtsübergabe in Österreich sieht Leitl eine „Zäsur“, nicht nur persönlich, sondern in Zeiten von Digitalisierung auch wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich. „Gut, dass ein Generationenwechsel erfolgt“, sagt Leitl, „ich werde mich in Österreich zu tagesaktuellen Themen nicht mehr zu Wort melden. Das muss jetzt ein anderer machen.“
Gemeint ist Harald Mahrer, an den er am 18. Mai die WKO-Präsidentschaft weiterreicht. An der Spitze des Österreichischen Wirtschaftsbundes hat dieser Leitl bereits Ende des Vorjahres beerbt. Er hält Mahrer als Nachfolger für geeignet, da er über politische Erfahrung verfüge und Zugang zur digitalen Welt habe. Die Veränderungen durch Digitalisierung würden nämlich nicht nur die Wirtschaft, sondern beinahe alle Facetten des Alltagslebens betreffen – gewissermaßen eine „Gesellschaft 4.0“.
Darin sieht Leitl ein Umfeld, in dem auch die Sozialpartnerschaft „die Chance hat, sich neu zu definieren“. Konkret erinnert er die Sozialpartner daran, dass sie überparteiliche Organisationen seien. „Als verlängerte Werkbank der Politik werden sie auf Dauer ihre Existenzberechtigung verlieren“, warnt der scheidende WKO-Präsident. Künftig gehe es darum, in einer Art „Digitalpartnerschaft“die Dinge ganzheitlich zu sehen und zu vernetzen.
Den aktuellen Zank mit der Regierung um eine Reform der Sozialpartnerschaft sieht Leitl jedenfalls gelassen. Zu Beginn seiner Präsidentschaft im Jahr 2000 seien die Angriffe der damaligen schwarz-blauen Regierung heftiger gewesen. Rückblickend auf seine Präsidentschaft sieht er etliche Erfolge, etwa in der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit und der Auswirkungen der Finanzkrise oder die hohe Zahl an Firmengründungen in Österreich. „Schmerzhaft“sei hingegen, dass es keine Arbeitszeitflexibilisierung gegeben habe, dafür aber eine „Erbschaftssteuer durch die Hintertüre“bei Wohnungen.
In den Ruhestand zu treten ist für den „Alt-68er“, wie sich Leitl selbst bezeichnet, aber noch kein Thema: „Ein Unternehmer geht niemals in Pension.“