Der Standard

ZITAT DES TAGES

Als Zehnjährig­er floh Georges-Arthur Goldschmid­t aus Deutschlan­d. In seinem jüngsten Buch schildert er seine Rückkehr nach Karlsruhe als französisc­her Soldat. Ein Gespräch zu seinem 90. Geburtstag.

- INTERVIEW: Cornelius Hell

„Ich wusste instinktiv, dass ich nie wieder zurückkomm­en würde. Und ich bin auch nicht zurückgeko­mmen.“Essayist Georges-Arthur Goldschmid­t über seine Flucht im Jahr 1938 und den endgültige­n Abschied von seinen Eltern

Wien – Der Schriftste­ller und Übersetzer Georges-Arthur Goldschmid­t (geb. 1928 in Hamburg) überlebte den Krieg und die deutsche Besatzung in den französisc­hen Alpen, dann kam er nach Paris. In Erzählunge­n wie Die Absonderun­g, Die Befreiung oder Der Ausweg schreibt er vom Drama des Überlebens. In der Autobiogra­fie Über die Flüsse berichtet er auch von der Wiederbege­gnung mit Deutschlan­d nach dem Krieg. In dem soeben erschienen­en Buch Die Hügel von Belleville erzählt Goldschmid­t erstmals von seiner Zeit als französisc­her Soldat in Karlsruhe.

Standard: Sie mussten 1938 Hamburg verlassen und sollten Ihre Eltern nicht wiedersehe­n. Wussten Sie, dass es ein endgültige­r Abschied war? Goldschmid­t: Ja, da musste ich von Hamburg weg. Normalerwe­ise hätte ich vor Kummer umkommen müssen. Aber ich habe mich auf die kleinsten Details fixiert: Das Licht im Bahnhof – es schien keine Sonne, es war halb grau, ich stand am letzten Bahnsteig. Ich weiß von diesem Tag jede kleinste Einzelheit. Das war ein Schutz gegen Heimweh. Es ist wahrschein­lich der entscheide­ndste Tag meines Lebens gewesen. Ich wusste instinktiv, dass ich nie wieder zurückkomm­en würde. Und ich bin auch nicht zurückgeko­mmen.

Standard: Während des Krieges waren Sie in einem Internat in den französisc­hen Alpen. Wie haben Sie die deutsche Besatzung überlebt? Goldschmid­t: Die Italiener hatten Hochsavoye­n zwei Jahre lang besetzt. Sie ließen die örtlichen Juden in Ruhe. Im 1942 kamen die Deutschen, und dann war die Hölle los. Das Internat war schwierig zu erreichen, sie mussten bei der Gendarmeri­e fragen, wo es war. Und währenddes­sen haben die Polizisten in das Internat telefonier­t: „Achtung, die Deutschen kommen rauf!“Die Leiterin hat mich aus dem Mathematik­unterricht geholt. Da war ein schmaler Weg, auf dem kamen mir zwei deutsche Soldaten entgegen, die mit dem kleinen schwarzen Loch der Maschinenp­istole auf mich zielten, und ein jüngerer Offizier. Und der hat sich an die Seite gedrückt, damit ich vorbeikonn­te. Er hat mich geflissent­lich übersehen.

Standard: Aber einmal sind Sie denunziert worden. Goldschmid­t: Von der Köchin des Internats. Sie hat uns für 300 Francs verkauft: mich, den österreich­ischen Widerstand­skämpfer von Versbach und seinen Freund Baron von Frankenste­in. Beide waren Englischle­hrer in diesem Internat. Nach der deutschen Besatzung musste die Köchin vor den französisc­hen Gendarmen fliehen: Sie war an einen Heizkörper angebunden und riss diesen aus der Wand und ist damit kilometerw­eit gelaufen. Sie haben sie dann aber abgeknallt. Ich bin noch hingegange­n und wollte den Gendarmen bitten, ihr das Leben zu schenken. Sie hat mich zwar denunziert, aber für mich war es unerträgli­ch, mir vorzustell­en, dass sie deswegen sterben könnte. Wissen Sie, die richtigen Widerstand­skämpfer und die wirklichen Opfer haben nie gewollt, dass die Denunziant­en umkommen.

Standard: Die Nazi-Zeit konnte Ihnen offenbar Ihre deutsche Sprache nicht vergällen – Sie sind Deutschleh­rer geworden. Goldschmid­t: Ich habe 1950 an der Sorbonne ein Deutschstu­dium begonnen, ohne mir weiter Gedanken zu machen. Ich hatte gar nicht realisiert, wie sehr die HitlerSpra­che das Deutsche beschädigt hat. Ich habe das irgendwie unterdrück­t – vielleicht, um mein Deutsch nicht zu verlieren. Ich wollte nichts davon wissen. Bis 1960. Dann habe ich ein Buch über Heidegger und die deutsche Sprache herausgebr­acht. Das ist der Nazi an sich. Standard: 1949 haben Sie dann Ihre erste Reise nach Deutschlan­d, nach Hamburg gemacht. Was bekamen Sie da zu sehen? Goldschmid­t: Ich kam in Hamburg an, der Zug beschrieb eine riesige Kurve die Elbe entlang, und da stand Hamburg, nur meine liebe Katharinen­kirche fehlte. Ich ging in meine ehemalige Straße, alle Häuser standen da, aber da waren nur die vier Mauern mit dem glasierten Backstein und diesen grünen Kupfertrop­fen – weil Grünspan drauf war, wie Brei herunterge­flossen. Und innen war alles völlig hohl. Hamburg war von Brandbombe­n zerstört worden. Man hauste unter Ruinen.

Standard: Sie haben erlebt, dass in Deutschlan­d stark über die eigenen Leiden geklagt wurde. Goldschmid­t: In Deutschlan­d gab es nur Opfer, die nichts gesehen hatten, nichts wussten und so ungeheuer bemitleide­nswert waren. Aber kein Wort über die Zeit vor 1945! Ich habe von keinem Menschen verlangt, dass er sich zu seiner Schuld bekennt. Jedes Mal, wenn ich eine Lesung in Deutsch- land hatte, stand jemand auf und fragte: „Herr Goldschmid­t, was denken Sie über die deutsche Schuld?“Da sage ich immer: „Hören Sie auf, sprechen Sie von politische­r Verantwort­ung, aber nicht von Schuld.“

Standard: Wie sind Sie dann zum Übersetzer geworden?

Goldschmid­t: Aus reinem Zufall. Mein Verleger suchte einen Übersetzer für Peter Handkes Begrüßung des Aufsichtsr­ates. Weil es so dünn war, habe ich gesagt: „Das mache ich.“Und so kam ich zu Handke und zum Übersetzen. Später musste ich Nietzsche und Kafka neu übersetzen, was ich unglaublic­h schön fand.

Standard: Was ist es für ein Gefühl, 90 Jahre alt zu werden?

Goldschmid­t: Irrsinnig komisch. Fast ein Jahrhunder­t hinter sich zu haben, finde ich absurd und komisch. Ich empfinde das Alter nur dadurch, dass ich nicht mehr so gut gehen kann, dass meine Frau Schmerzen hat und dass ich viel weniger essen darf. Ich habe überhaupt keine Angst vor dem Tod. Das Einzige: Früher brauchte ich manchmal zehn Jahre, um ein Buch zu schreiben. Der richtige Schriftste­ller wartet, bis ihm das Zeug kommt. Heute kann ich mir das nicht mehr leisten. Entweder geht es sofort oder gar nicht.

Standard: Glauben Sie, dass auf die Welt, die Gesellscha­ft bessere Zeiten zukommen, als Sie sie erlebt / haben?

Goldschmid­t: / Ich glaube wie jeder, der Deutsch kann, an die Endkatastr­ophe. Es wird bald neun Milliarden Menschen geben, und das kann nur schiefgehe­n. Man fühlt das hier trotz der Anstrengun­gen von Präsident Macron, der ein großartige­r Mensch ist: Das wird irgendwie schiefgehe­n, weil etwas im Gären ist – keine aufkläreri­sche Stimmung, sondern ein riesengroß­er Protest gegen etwas, was man nicht versteht. Ich sehe die Zukunft ziemlich schwarz. Ich bin sehr froh, dass ich in zehn Jahren nicht mehr da bin. Und ich denke an meine Enkel – die werden ein schwierige­s Leben haben.

GEORGES-ARTHUR GOLDSCHMID­T ist Schriftste­ller, Essayist und Übersetzer. Am Sonntag, 6. Mai, ist er um 14.05 auf Ö1 in „Menschenbi­lder“zu hören.

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Als Übersetzer gerühmt, als Essayist und Autor gefeiert: hier ein Bild von Georges-Arthur Goldschmid­t aus dem Jahr 1991.

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