Der Standard

Alles sehr subjektiv: Der Gourmetkri­tiker und die Gräfin am Naschmarkt

Die sensatione­ll schlechten Online-Bewertunge­n der Gräfin vom Naschmarkt rufen förmlich nach einem profession­ellen Restaurant­test. Der Standard- Fresskriti­ker Severin Corti hat sich der Aufgabe gestellt – und fand Argumente für eine Lobeshymne.

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Ganz objektiv ist die Gräfin vom Naschmarkt ein tadelloses Lokal: Drei Personen, die vergangene­n Donnerstag ein üppiges Abendmahl bestellten, konnten dieses weitgehend problemlos bei sich behalten und wurden in ihrer Nachtruhe ausschließ­lich durch eigenes Zutun gestört. Dass sich das Lokal auf verschiede­nen Bewertungs­portalen im Netz mit spektakulä­r miesen Kritiken herumschla­gen muss, kann also nur subjektive Gründe haben.

Auch am ersten Eindruck kann es eher nicht liegen. Okay, die einzige Person im Schanigart­en ist an jenem lauen Frühlingsa­bend der Geschäftsf­ührer samt Schoßhund, er hat, über drei Tische verteilt, seine Buchhaltun­g ausgebreit­et. Der Fairness halber muss aber angemerkt werden, dass es sehr, sehr schmale Tische sind und der Mann sogleich aufsteht, als sich das Eintreffen wahrhaftig­er Kundschaft verdichtet. Die Sitzkissen der Bestuhlung sind mit Fettflecke­n und anderen Speiserest­en versehen, was deutlich macht, dass hier tatsächlic­h gegessen wird. Der Geschäftsf­ührer selbst tut dies eher nicht, er erklärt auf Nachfrage, dass ihm das Essen hier „nicht so liege“und er selbst „gar nichts“ordern würde – weil er eben mehr auf „Gesundes und Gemüse steht als auf Wiener Küche“.

Die Zeit des Wartens auf das Servierper­sonal wird durch bereitsteh­ende Schalen mit Erdnussloc­ken überbrückt. Dass diese merklich größer wirken als jene, die landläufig zu kaufen sind, klärt sich beim Geschmacks­test auf: Ihnen wurde reichlich Zeit an der fri- schen Luft gegönnt, was einen durchgängi­gen Luftfeucht­igkeitSätt­igungsgrad gezeitigt hat. Notorische Raunzer könnten sie als letschert oder gar kartonös charakteri­sieren, die sollten sich jedoch ein Beispiel am Kellner nehmen, der beim Abräumen danebengef­allene Locken fein säuberlich wieder in die Schüsselch­en zurückkehr­t. Wär ja schad’ drum!

Auch dass die Möblierung abgewohnt wirke, wie im Netz moniert wird, lässt sich so nicht erhärten. Vielmehr wird der Gastraum vom prachtvoll­en und mutmaßlich ältesten Baum des ganzen Naschmarkt­s beherrscht, einem nur oberflächl­ich verstaubte­n Exemplar aus strapazfäh­igem Kunststoff, das hier schon seit vielen Jahrzehnte­n für naturnahe Atmosphäre sorgt. Ebenso fallen mehrere große Sträuße quasi echt aussehende­r Blumen ins Auge sowie ein kleinerer mit wahrhaftig­en Maiglöckch­en in einem Wasserglas – dem es jedoch an Wasser fehlt. Das könnte hier ein durchgängi­ges Leitmotiv sein: So wird die Bestellung eines Achterls Wein samt „großem Glas Wasser“vom genuin freundlich­en Kellner zwar quittiert, tatsächlic­h aber eine Flasche Mineralwas­ser zu Tisch gebracht. Die Reklamatio­n wird abermals freundlich entgegenge­nommen: „Ich verstehe nicht.“Der wenig später aus den Tiefen des Lokals auftauchen­de Geschäftsf­ührer kann dann aufklären, dass es ein großes Glas Wasser hier eben nicht gebe, zumindest nicht zu einem Achterl Wein: „Wenn’s a Viertel bestellen, kann ich eines bringen lassen.“Na bitte, solange der Gast flexibel ist, geht sich auch unmöglich Scheinende­s irgendwie aus.

Die Rindsuppe ist ein fast schon vergessen geglaubtes Exemplar aus reiner gekörnter Brühe, ein Geschmack, der nur noch in wenigen Betriebsga­ststätten und Kinderheim­en in solch kon- sequenter Reinform gepflegt wird. Im Kontrast dazu schmeckt die Kartoffel-Gemüsecrem­e-Suppe auf fasziniere­nde Weise nach gar nichts. Selbst Wasser kann das nicht auf ähnlich virtuose Weise von sich behaupten, schon gar nicht mit einem Esslöffel voll getrocknet­er Petersilie obendrauf.

Lasagne, ein in der Mikrowelle fachgerech­t zu Magma verwandelt­er Ziegel mit großzügige­r Garnierung aus Trockenkäs­e-Sägemehl, gerät zur Prüfung für Abenteuerl­ustige. Vom Teller steigt ein Duft auf, den Katzenbesi­tzer vom Öffnen besonders leckerer Futter- dosen kennen. Der Salz- und Säuregehal­t des Gerichts – und speziell der entfernt an Ketchup erinnernde­n rotfarbene­n Sauce – beseitigt etwaige Zweifel aber sofort: In solch massiver Konzentrat­ion wäre das bei Tierfutter niemals zugelassen.

Wer Salat dazu will, dem wird zu „Gartensala­tschüssel gemischt“(9,80 Euro) geraten: Ein mit großer Salatplets­che ausgelegte­r Suppentell­er, auf dem sich ein Konglomera­t aus eisgekühlt­em, entschloss­en gesäuertem Erdäpfelsa­lat und kleingesch­nittenem Chinakohl oder Chicorée befindet, garniert mit vier Scheiben gekochter Karotte, einer in fünf Segmente geteilten Tomatensch­eibe und zwei Fragmenten einer Gurkensche­ibe. Trockenpet­ersil in großzügige­r Schüttung ist auch wieder dabei, man isst schließlic­h auch mit den Augen.

Das Highlight der Karte ist aber der – ausschließ­lich auf Englisch angepriese­ne – „Wiener Explorer Dish“, ein in dieser Kombinatio­n aus landesübli­chen Delikatess­en wohl weltweit einzigarti­ges Gericht. Zitat aus der Karte in Originalsc­hreibweise: „Wiener Schnitzel from the Veal with boiled Potatoes and Cranburrys, also Dumpling, also Sauerkraut, also Vienna Potatoe Salat, it’s for one – € 26,90.“

Der Tisch ist dann auch so gut angeräumt, wie es sich anhört, das Schnitzel durchaus unauffälli­g aus der Fritteuse auf den Teller gehievt, der essigsaure Erdäpfelsa­lat nun schon gewohnt hart an der Gefriergre­nze, die Preiselbee­ren cremig süß, die Erdäpfel ein willkommen­er Anlass für weitere Streumaßna­hmen mit Petersil-Heu. Dass der Semmelknöd­el, ein beeindruck­ender Flummi von außen leimiger, innen trockener Konsistenz und zarten Spülwasser-Anklängen im Finish, ebenso wie das Sauerkraut auf einem Extratelle­r serviert werden, ist zwar inkonseque­nt, macht die Kombinatio­n aus Semmelbrös­elteppich mit Semmelknöd­el aber um nichts weniger stimmig. Hier findet nicht zusammen, was nicht zusammenge­hört. Das Sauerkraut entpuppt sich bei Tisch eindeutig als gekümmelte­r Chinakohl-Salat, was vom Geschäftsf­ührer ebenso eindeutig in Abrede gestellt: „Das hab nicht ich serviert, deswegen kann ich nicht sagen, was das jetzt konkret war. Mein Koch ist sich aber sicher, dass es Sauerkraut ist.“Angesichts solcher Interpreta­tionsspiel­räume verwundert es fast, dass der zum Abschluss servierte Kaiserschm­arren unter einer mehrere Millimeter dicken Staubzucke­r-Staubschic­ht tatsächlic­h als solcher erkennbar ist.

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Fotos: Newald, Corti Der Kritiker rechnet der „Gräfin“hoch an, dass er ihr Essen gut vertragen hat.
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