Der Standard

„Schärfste Waffe im Staat“

Christian Pilnacek

- Renate Graber

Christian Pilnacek, Generalsek­retär im Justizmini­sterium, denkt über eine Reform bei der Urteilsfin­dung nach.

Standard: Wir sind allein? Niemand dabei von der Message-Control aus dem Kanzleramt? Pilnacek: soll. (lacht) Wüsste nicht, wer das sein

Standard: Ich habe Ihnen etwas mitgebrach­t. Sie dürfen es annehmen, der materielle Wert liegt weit unter der Korruption­sschwelle. Pilnacek: Ah, das hab ich schon sehr lang nicht mehr gelesen.

Standard: Kafkas „Prozess“: Man kann in der Justiz verlorenge­hen, könnte man’s zusammenfa­ssen. Pilnacek: Ja. Man kann aber auch Karl Kraus zur Justiz lesen. Seine herrliche Geschichte etwa, in der er die Physiognom­ien der Landesgeri­chtsräte am Wiener Straflande­sgericht beschreibt. (lacht) Es gibt sie heute noch.

Standard: „Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand“, heißt es. Wie sieht das der höchste Beamte im Justizmini­sterium? Pilnacek: Ziel der Justiz muss sein, dass es genau so nicht ist. Die Justiz muss für vorhersehb­are Entscheidu­ngen sorgen: gut begründet, nachvollzi­ehbar, transparen­t.

Standard: Apropos Gott. Sie gehen jeden Sonntag in die Kirche? Pilnacek: Fast. Ich versuche, das einzuhalte­n.

Standard: Ich frage, weil es ungewöhnli­ch schwierig ist, Privates über Sie zu erfahren. Sie kommen aus einer katholisch-konservati­ven Familie, Ihr Vater war Verwaltung­sdirektor des Hauses der Barmherzig­keit, einer Pflegeinst­itution der Kirche, er ist beim Cartellver­band (CV) und beim christlich­ritterlich­en Lazarus-Orden. Pilnacek: Ich komme aus einer katholisch­en Familie, konservati­v würde ich gar nicht sagen. Wir konnten daheim alles offen und frei diskutiere­n. Aber ja, das Katholisch­e hat mich sehr geprägt, ich war auch lang Ministrant.

Standard: Haben Sie nie revoltiert? Pilnacek: Nein, ich war kein Revoluzzer. Aber ich habe mit den Geschichte­n von Revolution­en sowieso ein Problem, Revolution­en haben ja nie wirklich funktionie­rt.

Französisc­he Revolution: nicht

Standard: wichtig? Pilnacek: Es sind große Ideen und Anstöße übrig geblieben, aber es wurde auch großes Leid verursacht. Ich frage mich, ob es einer Revolution bedarf oder ob man diese Ideen und Anstöße nicht anders gewinnen kann. Meist entstehen aus Revolution­en erst recht wieder totalitäre Systeme.

Standard: Samtene Revolution haben Sie auch nie angezettel­t? Pilnacek: In unserer kleinen Welt der Justiz schon, durch unsere Strafproze­ssreform. Die war so gesehen schon revolution­är. Da haben wir unser sehr konservati­ves Untersuchu­ngsrichter­system abgelöst durch ein System, in dem die Staatsanwa­ltschaft im Mittelpunk­t steht und das Ermittlung­sverfahren leitet. Und wir haben die Rechte der Beschuldig­ten und Opfer erstmals klar geregelt.

Standard: Im Gymnasium in Wien-Ottakring: Haben Sie da viel mit Ihrem Schulsprec­her Christian Oxonitsch gestritten, dem heutigen Noch-Klubchef der Wiener SPÖ? Pilnacek: Wir haben politische Diskussion­en geführt und waren verschiede­ner Ansicht. Für mich war die damals, 1983, zu Ende gehende SPÖ-Alleinregi­erung Bruno Kreisky auch ein Zeichen für Versteiner­ung. Sie hatte 1970 mit großen Ideen begonnen, da ist gesellscha­ftspolitis­ch viel Notwendige­s geschehen. Aber am Ende zeigten sich Verfallser­scheinunge­n, ich erinnere nur an die Skandale um Noricum und Intertradi­ng.

Standard: Der Ära Kreisky verdanken viele den Zugang zur Bildung, Christian Brodas Familienre­chtsreform brachte die Gleichstel­lung von Frau und Mann, und seine große Strafrecht­sreform war epochal. Pilnacek: Ich persönlich verdanke schon meinen Eltern, dass ich ins Gymnasium INTERVIEW: gehen konnte, nicht einer politische­n Richtung. Das muss man schon sehen. Aber natürlich haben diese Reformen damals viel an Verkrustun­g aufgebroch­en, da wurde der Versuch einer freien Entfaltung mit sozialer Absicherun­g unternomme­n.

Standard: Der Versuch ist doch gelungen? Pilnacek: Vieles ist gelungen, definitiv.

Standard: Haben Sie je Rot gewählt? Pilnacek: (lacht) Das sage ich jetzt nicht. Das ist nicht von besonderem Interesse.

Standard: Ich frage, weil Sie politisch schwer zuzuordnen sind, Sie gelten als ÖVP- oder FPÖ-nahe. Freiheitli­che sagen aber, Sie seien sicher kein Freiheitli­cher, ÖVPler sagen, Sie seien sicher nicht schwarz. Sind Sie schwarz oder blau? Pilnacek: Weder noch. Ich habe ganz bewusst kein Bekenntnis zu einer politische­n Gesinnungs­gemeinscha­ft abgegeben. So überzeugt war ich nie von einer politische­n Richtung. Standard: Josef Moser ist ihr zehnter Justizmini­ster ... Pilnacek: Da muss ich nachzählen. Stimmt.

Standard: Nur Ihr erster Minister, Nikolaus Michalek, war ein Unabhängig­er. Maria Berger war von der SPÖ, alle anderen von FPÖ, BZÖ oder ÖVP nominiert. Es ist Ihnen egal, wer unter Ihnen Minister ist? Pilnacek: Nein. Ich habe das Verhältnis nie so definiert. Ich bin über die Jahre durch mein Wirken und mein Alter in wichtigere Positionen gekommen. Ich habe immer versucht, die politische­n Vorgaben und Ziele des Ressortche­fs oder der Ressortche­fin möglichst gut umzusetzen. Loyal und oft auch intern warnend, dass man etwas besser nicht so machen sollte. Fiel die Entscheidu­ng, es trotzdem zu tun, hab ich’s mitgetrage­n.

Standard: Ein Beamter im klassische­n Sinn oder anpassleri­sch? Pilnacek: Ersteres. Ich versuche, dem Ressortche­f ein guter Berater zu sein.

Standard: Minister Moser schafft die Hälfte aller Gesetze ab. Ist es nicht populistis­ch, Vorschrift­en zu kippen, die nicht in Gebrauch sind, und das dann Reform zu nennen? Pilnacek: Es geht um den Rechtsbest­and. Vielleicht ist es ein Symbol: Man räumt auf, schafft Unnötiges weg, um Neues, Besseres zu schaffen. Das dient der Rechtssich­erheit. Es ist wie beim Rasenmähen und Vertikutie­ren: Man tut es, damit Neues wachsen kann.

STANDARD: Mähen Sie daheim den Rasen? Ihre Frau lebt in Graz, Sie verbringen jedes Wochenende dort. Pilnacek: Ich lebe in Graz und arbeite in Wien. Und nein, ich bin kein Gartenarbe­iter.

STANDARD: Sie interessie­ren sich für die Schnittste­lle zwischen Politik und Justiz. Haben Sie eine rechtspoli­tische Vision? Pilnacek: Mir schwebt eine unbefangen­ere Diskussion übers Strafrecht vor. Mich stört dieses Geschichte­nmachen drumherum.

STANDARD: Ein lockerer Diskurs? Pilnacek: Nicht locker, denn Strafrecht ist die schärfste Waffe, die der Staat einsetzen kann. Damit sollen nur schwerwieg­ende Rechtsbrüc­he aus der Gesellscha­ft gebracht werden, das Böse.

STANDARD: Was ist denn das Böse? Pilnacek: Ich denke gerade sehr darüber nach, weil ich einen Buchbeitra­g über das Böse schreiben soll. Ich kann noch nicht mehr sagen als: Das Böse ist die Antithese zum Guten. Es ist sehr schwierig, das Böse zu bestimmen, obwohl man sich schon als Kleinkind oder in Beziehunge­n die Frage stellt „Bist du mir böse?“oder bittet „Sei mir nicht mehr böse“. Diese Fragen kommen von der Suche nach Verzeihung, nach Ausgleich.

Standard: Und das Böse steckt in jedem von uns? Pilnacek: Ja, das Böse ist in unseren Möglichkei­ten vorhanden. Man muss schon selbst vieles vermeiden wollen, das bezweckt ja auch das Strafrecht.

Standard: Sie sagen, man solle das Strafrecht „weniger als Mittel der Politik einsetzen“. Dabei wird vom Innenminis­terium aus gerade an der Verschärfu­ng der Strafen gearbeitet. Jeder in der Justiz weiß, dass das nicht nötig ist. Pilnacek: Erstens: Die Arbeitsgru­ppe Strafrecht leite ich. Zweitens steht schon im Re- gierungspr­ogramm, dass Gewalt- und Sexualdeli­kte strenger bestraft werden sollen, die Regierung hätte das auch sofort umsetzen können. Immerhin gibt es die Arbeitsgru­ppe und den Nachdenkpr­ozess dazu.

STANDARD: Sind Sie neuerdings auch höhere Strafen? Pilnacek: Das will ich weder bejahen noch verneinen. Es gelingt der Justiz einfach nicht, bei der Urteilsver­kündung klarzumach­en, warum sie in einem Fall diese und in einem anderen Fall eine andere Strafhöhe ausgemesse­n hat. Darum überlegen wir, ob wir einen eigenen Verfahrens­abschnitt schaffen, in dem die Schuldfest­stellung erfolgt, und einen zweiten, in dem die strafbesti­mmenden Umstände erörtert werden. So etwas gibt es auch in den USA. Denn mit einem Strafrecht, das auf keine Akzeptanz in der Bevölkerun­g stößt, erzeugt man soziale Schwierigk­eiten.

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STANDARD: Noch zu Ihnen. Sie gelten als Vielarbeit­er, Ihre Kollegen sagen, man sehe Sie nie essen ... Pilnacek: Weil ich kein Mittagesse­ngeher bin.

STANDARD: Dafür Schwarze Kameel? Pilnacek: Manchmal. Ein nettes wienerisch­es Lokal, man trifft unterschie­dlichste Leute dort, hört Gerüchte aller Art, auch politische, man bekommt einiges mit.

gehen

Sie

abends

ins

STANDARD: Ja, aber auch von Ihnen, wie Ihre Kritiker behaupten. Pilnacek: Was nicht stimmt, weil ich nichts erzähle.

Standard: Das Lokal ist 400 Jahre alt, Beethoven war oft im Kameel. Sie gehen gern ins Konzert? Pilnacek: Eher ins Theater.

STANDARD: Und Urlaub machen Sie in Krk und Bad Kleinkirch­heim? Pilnacek: Das wissen Sie auch.

STANDARD: Ich habe gehofft, Sie sagen, das sei privat, gehe die Öffentlich­keit nichts an. Damit hätte ich den Übergang zum Überwachun­gsstaat gehabt, zum Sicherheit­spaket der Regierung, das Sie verteidige­n. Pilnacek: Es gibt keine flächendec­kende Überwachun­g, und ich spreche nur für den Reformteil in der Strafproze­ssordnung. Ich halte es für richtig, dass man künftig nicht nur Kommunikat­ion über herkömmlic­he Telefoniea­nbieter überwachen kann, sondern auch Überwachun­gssoftware einsetzen darf, um verschlüss­elte Nachrichte­n auf Whatsapp lesen zu können. Wenn es der Aufklärung schwerster Tatbeständ­e dient. All das ist nicht der Untergang eines liberalen Staates.

STANDARD: Was würden eigentlich Sie tun, müssten Sie ins Gefängnis? Pilnacek: Für mich ist das unvorstell­bar, und es macht mir Angst. Ich würde hoffen, dass ich schnell Arbeit bekomme, um wenigstens ein paar Stunden nicht im Haftraum verbringen zu müssen.

Letzte Frage: Worum geht’s im

STANDARD: Leben? Pilnacek: privat. pLangfassu­ng: derStandar­d.at/Andersgefr­agt Um Zufriedenh­eit, beruflich wie

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