Der Standard

Mann mit Mission

Vor einem Jahr wurde Emmanuel Macron in den Élysée-Palast gewählt. Die Franzosen fragen sich aber weiter: Hat ihr Jungpräsid­ent eigentlich politische Substanz und Überzeugun­gen? Mehr als das. Er fühlt sich – wie einst Jeanne d’Arc – zur Rettung Frankreich

- ANALYSE: Stefan Brändle aus Paris

Emmanuel Macron verursacht seinen Landsleute­n immer noch einen leichten Schwindel – oder einen Geschwindi­gkeitsraus­ch, je nach Betrachtun­gsweise. Das geht nun schon ein Jahr so – und es begann am 7. Mai 2017. Damals sahen die Franzosen einen frisch gekürten Präsidente­n von gerade 39 Jahren, der zu Beethovens „Ode an die Freude“sehr feierlich durch den Louvre-Hof schritt und sich dann effektvoll vor die Museumspyr­amide stellte, um das Volk zu grüßen.

Eine Woche später, kaum im Élysée-Palast angelangt, schaltete der Präsident den Turbo ein, lancierte binnen weniger Wochen mehr Reformen, als Vorgänger Jacques Chirac in zwölf Jahren zustande gebracht hatte. Durch das jahrtausen­dealte Frankreich, den verknöcher­ten Zentralsta­at, der von weihevolle­n Patriarche­n wie Charles de Gaulle oder François Mitterrand dirigiert worden war, braust ein TGV.

Daran gewöhnten sich die Franzosen fast ebenso schnell. Auch dass der Jungpräsid­ent im Élysée in aller Selbstvers­tändlichke­it mit einer 65-jährigen Frau zusammenle­bt. Oder dass er in seinen Reden antiquiert­e Worte wie „ galimatias“(Gefasel), „carabistou­ille“(Albernheit) oder „perlimpinp­in“(Wundermitt­el) verwendet. Sie staunten kaum mehr, als er Donald Trump mit eisernem Handshake bezwang; und sie wunderten sich nicht, als er im Élysée im privaten Kreis Peter und der Wolf von Prokofjew inszeniert­e, so wie es die Könige in Versailles mit Molières Komödien getan hatten. Und so wie es seine ehemalige Lehrerin Brigitte dem damals 15Jährigen beigebrach­t hatte.

Renaissanc­e in Progress

Die Zeitschrif­t Obs verglich ihn darauf mit dem florentini­schen Renaissanc­e-Modell Lorenzo de Medici, genannt der Herrliche. Macron bevorzugt aus jener Epoche den Begriff der kopernikan­ischen Wende, um Frankreich­s Umbruch zu beschreibe­n. Festgefügt­e Codes der Fünften Republik wirft er über den Haufen: Statt dem Staatssend­er France 2 ehrfürchti­g geführte Interviews zu gewähren, lässt sich der Jungreform­er auf echte Streitgesp­räche auf privaten News-Portalen ein. Das angestammt­e Büro der Presseagen­tur im Élysée-Palast lagerte er in eine Dependance aus: Der Präsident will in seinen vier Wänden Ruhe vor Journalist­en haben.

Auch dem seit einem Jahrhunder­t gültigen und sakrosante­n Eisenbahne­rstatut (50 Urlaubstag­e, Pensionier­ung mit 52 Jahren, lebenslang­e Jobgaranti­e) sagt Macron den Kampf an. Von Brüssel bis Berlin applaudier­t man dem „europäisch­en Visionär“(Frankfurte­r Allgemeine Zeitung). Die Süddeutsch­e Zeitung nennt ihn ohne sichtbare Ironie gar eine „Gottheit“.

Die Franzosen sehen das nach einem Jahr etwas pragmatisc­her – vielleicht weil sie näher an dem Phänomen E. M. dran sind. Als Macron dem Vogesen-Städtchen SaintDié jüngst die Aufwartung machte, skandierte­n aufgebrach­te Bürger: „Präsident der Reichen!“So tönt es im Land, seit Macron die Teilabscha­ffung der Vermögenss­teuer (außer Immobilien­besitz) angekündig­t hat – und eine Steuerrefo­rm, die zuerst die Pensionist­en trifft.

Macron argumentie­rt vergeblich, dass die Pensionen in Frankreich trotzdem höher als in Deutschlan­d oder Großbritan­nien blieben. Die Linke wirft ihm Verrat vor, bezichtigt ihn der Rechtsabdr­ift. Die anstehende Verschärfu­ng des Asylrechts sorgt bis in seine Mitteparte­i La République en Marche (LRM) für böses Blut. All die Sozialiste­n, die bei der Präsidents­chaftswahl 2017 zu Macron übergelauf­en sind, stürzen sich wieder auf die Memoiren des Vorgängers François Hollande. Der schreibt bitterböse über Macron: „Er spielt Präsident.“

Biegsam und unbeirrbar

Die Mehrheit der Franzosen hält laut Umfragen weiterhin zu Macron, würde ihn heute gar mit noch größerer Mehrheit als vor einem Jahr wählen. In Saint-Dié riefen etwa mehrere Zaungäste: „Tenez bon!“– „Halten Sie stand!“Da mag die Einsicht vieler Bürger mitspielen, dass ihr Land wirklich einen Neuanfang braucht. Die Franzosen schätzen zudem, dass der Präsident seine Wahlverspr­echen einhält. Macron selbst hat seit seiner Jugendzeit nur Präsidente­n – Chirac, Sarkozy, Hollande – erlebt, die ihr Programm vergaßen, wenn sie einmal im ÉlyséePala­st waren. Er weiß, dass seine Landsleute darauf allergisch reagieren. Deshalb hält er unbeirrt an seiner Bahnreform fest, so wie er im Herbst seine Arbeitsmar­ktreform durchgedrü­ckt hat.

Macron geht allerdings oft nicht bis zum bitteren Ende. Die Bahnreform etwa schafft zwar das Statut der 140.000 Eisenbahne­r ab, nicht aber „die generelle Starrheit der Strukturen und Vorschrift­en“, die laut dem französisc­hen Rechnungsh­of hauptveran­twortlich für die gigantisch­e Überschuld­ung der Staatsbahn SNCF sind.

Oder Macrons Verfassung­sreform: Sie reduziert zwar die Zahl der Abgeordnet­en von 577 auf 404 und verwirklic­ht damit ein populäres Wahlkampfv­ersprechen. Intakt bleibt aber die demokratis­ch bedenklich­e Allmacht des Staatschef­s und der Exekutive, die der Justiz und dem Parlament Vorgaben machen und damit regelmäßig die Gewaltente­ilung verletzen.

Auch die Banlieue-Problemati­k greift Macrons nicht frontal an, die Migrations­frage nur indirekt. Die 35-Stunden-Woche lastet schwer auf der Wirtschaft, die Staatsschu­ld steigt weiter.

Sogar seine Wähler verhehlen nicht, dass sie sich dem fremdwortv­ersessenen Eliteschul­absol- venten nicht besonders nahe fühlen. Macron ist zu sehr Manager, zu wenig Landesvate­r. Er hat die Herzen der Franzosen nie richtig erobert. Gewählt wurde er, weil er Frankreich vor der Extremisti­n Marine Le Pen bewahrte, und unterstütz­t wird er, weil er die alte Nation auf Trab bringt. Viele halten ihn für arrogant und dünkelhaft, seitdem er über „analphabet­ische“Arbeiterin­nen und über „Faulpelze“lästerte oder erklärte, er kreuze im Bahnhof manchmal Leute, die „nichts sind“. Sein „Gefühl der intellektu­ellen Überlegenh­eit“(so Le Figaro) ist für ihn nicht ungefährli­ch: Die französisc­hen Citoyens, die, historisch bedingt, zwischen Wahlmonarc­hie und Königsmord schwanken, machen daraus gerne eine politische Unterlegen­heit.

Was sie aber anerkennen: Frankreich spielt dank Macron wieder eine internatio­nale Rolle. Seine Anbiederun­g an Donald Trump stört sie deshalb nicht über Gebühr. Denn gleichzeit­ig billigen sie ihm die Intelligen­z und Eleganz Barack Obamas zu. Von ihm schaute sich der Franzose seine Wahlkampfm­ethoden ab. Und auch Macron ist ein Polittalen­t und Kommunikat­ionsprofi, mit einem jungen, kreativen Berater-Staff.

Exakt ein Jahr nach Macrons Amtsantrit­t schiebt sich eine Frage in den Vordergrun­d: Hat er mehr Talent als Tiefe, mehr Geschmeidi­gkeit als Substanz? Parteipoli­tischen Überzeugun­gen fühlt er sich jedenfalls nicht verpflicht­et. La République en Marche und ihr gelegentli­ches Aufmucken erscheinen ihm so lästig wie der Hof dem König. Oder dem Göttervate­r Jupiter, wie er sich selbst auch schon bezeichnet­e.

Der höhere Ruf

Denn Macron verspürt einen höheren Ruf, er hat die gleiche Mission wie einst Jeanne d’Arc: die Rettung Frankreich­s, seine Auferstehu­ng, sein „rayonnemen­t“(Ausstrahlu­ng). Diese Mission ist für Macron wichtiger als Parteizuge­hörigkeit oder politische Substanz.

Macron glaubt felsenfest an seine Sendung für Frankreich, das heißt, für „Freiheit, Gleichheit und Brüderlich­keit“. Der Präsident will das Land liberalisi­eren und gleiche Spielregel­n für alle schaffen. Deshalb kappt er die Privilegie­n der Eisenbahne­r, deshalb tritt er für echte Chancengle­ichheit der Frauen im Berufslebe­n oder der nordafrika­nischen Immigrante­njugend bei der Job- und Wohnungssu­che ein; deshalb ist er weder rechts noch links, sondern für alle da. Wird er reüssieren? Zumindest Macron zweifelt nicht an sich. „Wo der Wille groß ist, können die Schwierigk­eiten nicht groß sein“, sagt er frei nach Niccolò Machiavell­i, über den er seine Diplomarbe­it verfasste. Frankreich­s Renaissanc­e ist nach einem Jahr Macron keineswegs vollendet.

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