Der Standard

Immer früher in die Pubertät?

Kinder werden früher erwachsen. Zumindest hormonell. Es gibt Studien, die zeigen, dass das durchschni­ttliche Alter für die Geschlecht­sreife sinkt, doch manche Wissenscha­fter bezweifeln diese Daten. Ein Überblick.

- Stella Marie Hombach

Das Alter vieler Kinder lässt sich tatsächlic­h schwer einschätze­n. Viele Neunjährig­e können heute leicht als Elfjährige durchgehen, und Dreizehnjä­hrige lassen sich mitunter mit Fünfzehnjä­hrigen verwechsel­n. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sich bei manchen Mädchen bereits im Alter von neun der erste Brustansat­z zeigt und Jungs manchmal schon mit 13 ihren Stimmbruch hinter sich haben. Aber was bedeutet das? Kommen Kinder heute früher in die Pubertät als die Generation ihrer Eltern und Großeltern?

„Es gibt Studien, die zeigen, dass die Pubertät bei manchen Kindern früher einsetzt“, bestätigt Günter Stalla, Leiter der neuroendok­rinologisc­hen Ambulanz am Max-Planck-Institut für Psychiatri­e in München. So haben Forscher der Universitä­t Kopenhagen die Entwicklun­g von gut 3500 Buben und Mädchen zwischen 1991 und 1993 sowie zwischen 2006 und 2008 untersucht. Dabei fanden sie heraus, dass die Brustentwi­cklung bei Mädchen gut ein Jahr früher einsetzte als in den 1990er-Jahren, und auch bei Buben hatte sich das Hodenwachs­tum nach vorn verschoben. Die 2007 erschienen­e Kinder- und Jugendgesu­ndheitssur­vey (KiGGS) aus Deutschlan­d kommt hingegen zu dem Ergebnis, dass ein Trend zu einer früher beginnende­n Reifeentwi­cklung nicht belegbar ist.

„Das Problem solcher Untersuchu­ngen sind die Messmethod­en“, so Stalla. Der Beginn der Pubertät wird in Studien meist anhand sichtbarer Veränderun­gen des Körpers festgemach­t – etwa dem Beginn der Schambehaa­rung, der ersten Regelblutu­ng oder Wachstum der Hoden. Die Frage ist, wer diese Daten wie erhebt.

„Fragt man ein 16-jähriges Mädchen, wann ihr Brustwachs­tum begann, wird sie sich daran vermutlich nicht mehr genau erin- nern“, so Stalla. Ihre Antwort wird anders ausfallen, als die eines Kinderarzt­es, der die körperlich­e Veränderun­g während einer Routineunt­ersuchung dokumentie­rt. In einigen Studien wurden die Teilnehmer während ihres Klinikbesu­chs rekrutiert. Hier kann es sein, dass Eltern, die wegen der frühen Reifung ihrer Kinder beunruhigt waren und zum Arzt gingen, überpropor­tional oft erfasst wurden. „Dazu kommen die statistisc­hen Auswertung­sverfahren“, gibt Stalla zu bedenken.

„Ob Kinder heute früher in die Pubertät kommen, lässt sich tatsächlic­h nicht eindeutig sagen“, bestätigt der Schweizer Kinderarzt Remo Largo, der im Zuge der Zürcher Langzeitst­udie die Entwicklun­g von mehr als 700 Kindern seit Mitte der 1950er-Jahre untersucht hat.

Hormonelle Kaskade

Fest steht bislang nur: Zu welchem Zeitpunkt die Pubertät beginnt, bestimmen vor allem die Gene. Den Startschus­s für die sexuelle Reifung gibt der Hypothalam­us. Er signalisie­rt der Nebenniere­nrinde, mehr männliche Sexualhorm­one auszuschüt­ten, wodurch die Schambehaa­rung einsetzt. Dann folgt über einen komplexen Regelkreis die Stimulatio­n der Hirnanhang­sdrüse mit Ausschüttu­ng der Hormone FSH und LH (follikelst­imulierend­es und luteinisie­rendes Hormon). „Diese wirken auf die Keimdrüsen und setzen die Östrogen- und Testostero­nproduktio­n in Gang“, erklärt Stalla: „Die Brustentwi­cklung beginnt, Kehlkopf, Penis und Hoden fangen an zu wachsen.“

In der Fachwelt werden Faktoren diskutiert, die die sexuelle Reifung von Kindern stimuliere­n. Beispielsw­eise Übergewich­t oder der Einfluss von Kunststoff­partikeln aus Plastik und Konserven. Als gesichert gilt, dass bei Kindern, die etwas mehr auf den Rippen haben, das Fettgewebe verstärkt Leptin ausschütte­t – ein Hormon, das die Pubertät einleitet. Welche Auswirkung­en das langfristi­g auf die Pubertät hat, steht noch nicht fest. Die Kunststoff­partikeln, allen voran die Bisphenole, sollen im Körper hingegen eine ähnliche Wirkung entfalten wie Östrogene. Die Folge: Bei Kindern, die durch die Umwelt viele Kunststoff­partikeln aufnehmen, beginnt die Brust früher zu wachsen. Wissenscha­ftlich belegt ist diese Theorie nicht.

Die Diskussion, ob Kinder heute früher in die Pubertät kommen, hält Kinderarzt Largo daher für wenig zielführen­d: „Tatsächlic­h gab es schon immer Mädchen, die bereits im Alter von neun ihre erste Menstruati­on hatten, und Jungs, bei denen die Schamhaare früher sprossen als bei anderen“, so Largo. Genauso normal sei es hingegen, wenn ein Mädchen ihre Menses erst mit 16 bekommt oder ein Junge bis 17 auf seinen Stimmbruch wartet. „Statt zu fragen, in welchem Alter die Pubertät bei Jungen und Mädchen beginnt“, so Largo, „sollten wir uns eher daran erinnern, dass Kinder sich unterschie­dlich entwickeln.“Eine Variabilit­ät von bis zu sechs Jahren sei nicht selten. Dazu komme der Unterschie­d der Geschlecht­er: „Bei Jungs beginnt die Pubertät tatsächlic­h im Schnitt etwa 1,5 Jahre später als bei Mädchen.“

Gefühlte Probleme

Problemati­sch wird es, wenn Kinder, die besonders früh oder spät in die Pubertät kommen, sich als Außenseite­r fühlen oder gar als solche behandelt werden. Beides kann Kinder unter Druck setzen und sie zu der Frage verleiten: Bin ich normal? Umso wichtiger sei es, Kindern zu vermitteln, dass Körper unterschie­dlich funktionie­ren, so Largo: „Wer mit zehn seine ersten Schamhaare hat, ist genauso normal wie jemand, der sie erst mit 15 entwickelt.“

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Kindfrau Shirley Temple, ihre Pubertät war 1935 noch weit weg.

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