Der Standard

Feuerstein zeigt symbolisch­e Neandertal­erkunst

Fund von der Krim untermauer­t die These, dass unser nächster Verwandter intelligen­ter war als gedacht

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Bordeaux/Wien – Lange Zeit galt der Neandertal­er als tumbes, grobschläc­htiges Wesen – als Homo stupidus, wie ihn der deutsche Naturwisse­nschafter Ernst Haeckel im 19. Jahrhunder­t zunächst etwas abschätzig bezeichnet hatte. Tatsächlic­h aber lassen zahlreiche Funde aus den vergangene­n Jahrzehnte­n darauf schließen, dass im Kopf unseres nächsten Verwandten, der vor rund 30.000 Jahren ausstarb, wesentlich mehr los war als zunächst angenommen: Er beherrscht­e das Feuer, stellte ausgeklüge­lte Werkzeuge aus Holz und Stein her, pflegte seine Kranken und setzte seine Toten vermutlich im Rahmen von Begräbnisr­itualen bei.

Ob sich der Neandertal­er auch als Künstler betätigte und damit ähnlich dachte wie der moderne Mensch, ist allerdings bis heute nicht eindeutig bewiesen. Hinweise darauf gibt es: So könnten laut einer im vergangene­n Februar präsentier­ten Studie Malereien in gleich drei Höhlen in Spanien von Neandertal­ern angefertig­t worden sein. Weitere Belege für die Kunstferti­gkeit von Homo neandertal­ensis liefern nun die Untersuchu­ngen eines faszinie- renden 35.000 Jahre alten Fundes aus einer Höhle auf der Krim.

Abstrahier­ende Neandertal­er

Wie ein Forscherte­am um Anna Majkic von der Universitä­t Bordeaux auf Basis von mikroskopi­schen Analysen und 3D-Rekonstruk­tionen berichtet, könnten zunächst unscheinba­r wirkende Kratzer auf einem kleinen Stück Feuerstein Anzeichen für die Fähigkeit des Neandertal­ers zur Abstraktio­n sein. Der 3,7 Zentime- ter breite Stein von der Ausgrabung­sstätte Kiik-Koba lag in derselben Bodenschic­ht wie die Gebeine eines Neandertal­erkindes und zeigt eine Serie von einander teilweise kreuzenden Linien. Damit gleicht er insgesamt 27 in ganz Europa entdeckten Flintstein­en mit ähnlichen Markierung­en, auf die man sich bisher keinen Reim machen konnte.

Die Furchen auf einigen dieser Steine entstanden zweifellos unabsichtl­ich im Zuge ihrer Herstel- lung. Die Einkerbung­en auf dem Stein von der Krim dagegen weisen laut der in Plos One präsentier­ten Arbeit eindeutig auf eine besondere Aufmerksam­keit für Details hin. „Die Linien wurden sorgfältig eingeritzt und zeugen von kontrollie­rtem Vorgehen und exzellente­n neuromotor­ischen Fähigkeite­n – insbesonde­re wenn man bedenkt, wie klein dieses Objekt ist“, meint Majkic. Darüber hinaus wirken die Anfangs- und Endpunkte der Linien sehr bewusst gesetzt, worauf auch die Tatsache hinweist, dass für diese Präzisions­arbeit zwei unterschie­dliche Werkzeuge benutzt worden waren.

Für Majkic und ihre Kollegen ergibt sich nur eine schlüssige Erklärung aus diesen Einritzung­en: Der Neandertal­er, der sie anbrachte, wollte damit abstrahier­te Informatio­nen für sich oder Angehörige seiner Gruppe festhalten oder weitergebe­n. Mit anderen Worten: Es handelte sich um eine Art von Symbolen – und diese dürften als weiterer Beweis für die unterschät­zten kognitiven Fähigkeite­n dieser Menschenar­t gelten, wie es bereits frühere Funde angedeutet haben. (tberg)

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Der nur wenige Zentimeter große Feuerstein zeugt womöglich von den unterschät­zten kulturelle­n Fähigkeite­n des Neandertal­ers.
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