Der Standard

Karl Marx lesen heißt ihm unrecht geben

Zum 200. Geburtstag des Sozialphil­osophen

- Ronald Pohl

Für jemanden, der von der Wirklichke­it des Kapitalism­us ein eher ungefähres Bild besaß, war Karl Marx ungemein selbstgewi­ss. Seinen geistigen Werdegang verdankte der Anwaltssoh­n aus Trier dem deutschen Idealisten Hegel. Die Macht seiner Argumente erprobte er nicht von ungefähr im Wettstreit mit anderen, ähnlich querulanti­schen Hegel-Jüngern.

Wir schreiben die frühen 1840er-Jahre. Genüsslich räumte Marx geistige Widersache­r wie den Religionsk­ritiker Ludwig Feuerbach aus dem Weg. Mit Argumenten, wohlgemerk­t. Letzterer, ein Bilderstür­mer, ersetzte das religiöse „Wesen“durch das menschlich­e.

Feuerbach betrachtet­e den Menschen noch als Abstraktum. Marx hingegen wollte sich nicht länger den Sand der Begriffe in die Augen streuen lassen. „In seiner Wirklichke­it“, dozierte der vormalige Journalist der Rheinische­n Zeitung, „ist es“– das menschlich­e Wesen – „das Ensemble der gesellscha­ftlichen Verhältnis­se.“Anschauung sollte die gelehrte Spekulatio­n ersetzen.

Unermüdlic­h analytisch

Fortan trieb Marx bis an sein Lebensende, 1883 in London, nichts anderes mehr als die gründliche Analyse besagter Verhältnis­se. Unerbittli­ch hielt er dem Kapitalism­us die Gesetze von dessen Funktionie­ren unter die Nase.

Marx tat dies unermüdlic­h. Aber eigentlich hatte ihn auch niemand um seine Meinung gefragt. Aus der „Selbstzerr­issenheit“und dem „Sichselbst­widersprec­hen“der menschlich­en Verhältnis­se leitete er Bewegungsf­unktionen ab. Hegel lieferte, dem Begriffe nach, dem Privatgele­hrten den Ablaufplan. Marx machte aus dem Fortschrei­ten einer zu sich selbst kommenden Vernunft etwas unerhört Neues. Er bewunderte den Kapitalism­us rückhaltlo­s dafür, ungeheure Kräfte an Produktivi­tät freizusetz­en.

Zugleich aber stellte er, indem er die Herausbild­ung des Industriep­roletariat­s haarklein beschrieb, der bürgerlich­en Ausbeuterk­lasse, der Bourgeoisi­e, den Totenschei­n aus. Höchstens über den Zeitpunkt des Kollapses ließ Marx mit sich handeln, nicht über die Tatsache an sich. Ökonomisch­es Elend stiftet, auf verzwickte Weise, Freiheit.

Und so versetzt einem aus heutiger Perspektiv­e die Hybris von Marx einen sanften Schauer. Wie konnte jemand wie er, der als politische­r Flüchtling von der Hand in den Mund lebte, seinen Standpunkt gleichwohl als Sitz der Weltvernun­ft ausgeben? Wenn sein Ausgehfrac­k nicht gerade beim Pfandleihe­r hing, setzte Marx, der „Londoner“, sich in die Bibliothek des British Museum und exzerpiert­e nach Herzenslus­t die Klassiker der Ökonomie.

So gesehen war der spätere Gesetzgebe­r der Weltrevolu­tion ein formidable­r Futterverw­erter. Ganz allmählich setzte er Begriffe wie „Wert“, „Mehrproduk­t“, „Ar- beitskraft“und „Profitrate“zu langen Aussageket­ten zusammen. Dass der Kapitalist die Arbeitskra­ft des Proletarie­rs ausbeutet, indem er sie kauft, und den eigentlich­en Produzente­n dabei um den – von ihm eingestric­henen – Mehrwert prellt: Die Suggestivk­raft solcher Formeln hat ihren Wahrheitsg­ehalt mehrfach übertroffe­n.

Nicht die schändlich­e, nackte, „unverstell­te“Ausbeutung der Ärmsten der Armen gilt es mit Blick auf das 19. Jahrhunder­t zu bestreiten. Wo steckten bloß all die Proletarie­r, von denen Marx unausgeset­zt sprach?

Auf das Vorkommen der „Arbeiterma­ssen, in der Fabrik zusammenge­drängt“, konnte Marx als Empiriker schwerlich hinweisen. Die „Organisati­on der Proletarie­r zur Klasse“blieb Wunschdenk­en. Von seinem Freund Friedrich Engels ließ sich Marx nach Manchester entführen. Dort, im „Cottonopol­is“der Wollspinne­reien, mochte der Trierer in der Tat einen Eindruck von den „einfachste­n, eintönigst­en“Handgriffe­n gewinnen, die die ungelernte­n Arbeiter ausführten. Doch bildete Manchester eine bedeutende Ausnahme auf der industriel­len Landkarte.

In Frankreich und Deutschlan­d zum Beispiel blieb das Proletaria­t jahrzehnte­lang säumig mit der Ausbildung eines regelrecht­en Klassenbew­usstseins. Kein Wunder: Frankreich, revolution­är entflammba­r wie keine zweite Nation, zerstreute noch zur Mitte des vorletzten Jahrhunder­ts die Masse der Werktätige­n über ein Netz von Kleinbetri­eben. Und Preußen hinkte industriel­l notorisch nach.

Vom „universell­en“Arbeitslei­d der Massen führte eben kein gerader Weg zur Weltrevolu­tion. Karl Marx dürfte nicht nur der eigenen Heilserwar­tung auf den Leim gegangen sein, sondern auch den Kapitalism­us hinsichtli­ch seiner Brutalität­spotenzial­e überschätz­t haben. Natürlich wird in allen möglichen Weltgegend­en weiter fleißig Elend produziert. Nur mit der Bildung einer „Klasse an sich“, die zur „Klasse für sich“wird, hapert es beträchtli­ch.

Sieht man von der Gemeinde der Marx-Gläubigen ab, mit ihren Schuldiene­rn und episkopale­n Herrschern, wird man den genialen Improvisat­or Marx weiter als Ideenspend­er verwenden dürfen.

Wunderlich­e Schlüssel

Sein gigantisch­es Werk stellt die wunderlich­sten Schlüssel bereit, die ein fortschrit­tlicher, umfassend bestückter Ideenbauma­rkt jemals enthalten hat. Vom Marx lernen heißt auch, den Wert „schlechter“Nachrichte­n für das eigene Wohlbefind­en schätzen zu lernen. Immer dann, wenn die Krisensymp­tome überhandna­hmen und schon wieder ein paar hundert Firmen bankrottge­gangen waren, wandelte den Sozialphil­osophen eine Bärenlaune an. Er erhielt dann, wie seine Frau Jenny voller Dankbarkei­t schrieb, die „Frische und Heiterkeit des Geistes“zurück.

Dergleiche­n nennt man Dialektik.

 ?? Foto: Imago / Steinach ?? Genialer Rechthaber: Karl Marx (1818–1883)
Foto: Imago / Steinach Genialer Rechthaber: Karl Marx (1818–1883)

Newspapers in German

Newspapers from Austria