Der Standard

Von der Neutralitä­t zur Solidaritä­t und retour?

Österreich­s Außenpolit­ik hat sich über die Jahrzehnte der EU-Mitgliedsc­haft beinahe normalisie­rt. Die neue Regierung stellt diesen Prozess nun infrage und macht eine seltsame Kehrtwende zurück in die 1970er- und 1980er-Jahre.

- Stefan Lehne

Um den Abzug der alliierten Truppen zu erreichen und die volle Souveränit­ät wiederherz­ustellen, entschied sich Österreich 1955 für den Status eines ständig neutralen Landes. Auf der Suche nach einer neuen Identität für ein von der Geschichte geprügelte­s Land wurde die Neutralitä­t aber schon bald danach zu einer Art Staatsreli­gion erhoben. Zu ihren schon in den Volksschul­en verbreitet­en Glaubenssä­tzen zählte lange Zeit die Annahme, dass Neutralitä­t eine moralisch höherwerti­ge Außenpolit­ik darstellt. Die pazifistis­che Grundhaltu­ng einer durch zwei Weltkriege traumatisi­erten Bevölkerun­g verband sich mit der Kritik am Wettrüsten zur Überzeugun­g, dass Militärbün­dnisse gefährlich­e Institutio­nen seien, die Europa in einen weiteren Konflikt hineinzuzi­ehen drohten. Ein weiteres mit großem Eifer verbreitet­es Dogma war die Vorstellun­g, dass Österreich aufgrund seines neutralen Status, als Ort internatio­naler Begegnunge­n, durch Vermittlun­gsbemühung­en sowie Beteiligun­g an friedenser­haltenden Einsätzen von allen Seiten geschätzt wird.

Geprägt von diesen Überzeugun­gen erlebten viele junge Österreich­er bei Auslandsau­fenthalten mit Verwunderu­ng, dass sich diese Innenansic­ht der Neutralitä­t deutlich von der Sicht von außen abhob. Das offizielle westliche Ausland beurteilte zwar manchen außenpolit­ischen Beitrag Österreich­s positiv. Die Vorstellun­g von der höheren moralische­n Qualität des österreich­ischen Status traf jedoch auf Unverständ­nis. Auch wenn Gesprächsp­artner vielfach die geopolitis­chen Grundlagen des neutralen Status einsahen, war man doch immer wieder mit der Meinung konfrontie­rt, dass letztlich auch die Freiheit und Sicherheit Österreich­s der Stärke der westlichen Allianz zu verdanken waren. Manchmal ging das bis zum Vorwurf mangelnder Solidaritä­t und Trittbrett­fahrerei. Dieses Auseinande­rklaffen von Innenperze­ption und Außenpersp­ektive mag einzelne Österreich­er nachdenkli­ch gestimmt haben, die neutrale Staatsdokt­rin war aber gefestigt genug, um diese Kritik abschüttel­n zu können.

Mit dem Ende des Kalten Krieges verlor das Dogma von der moralische­n Überlegenh­eit der Neutralitä­t an Plausibili­tät. Die Kriegsgefa­hr schwand, die meisten Mitglieder des Warschauer Pakts traten der Nato bei; vom westlichen Randstaat wurde Österreich zur Nato-Enklave. Trotz dieser fundamenta­len Umwälzunge­n der sicherheit­spolitisch­en Strukturen Europas stellte keine österreich­ische Regierung den im kollektive­n Bewusstsei­n fest verankerte­n neutralen Status ernsthaft infrage. Dafür wurde die nun möglich gewordene Mitgliedsc­haft in der EU konsequent angestrebt. Um die zukünftige­n Partner zu überzeugen, dass der neutrale Status die Solidaritä­t im Rahmen der EU nicht behindern würde, passte Österreich auch den rechtliche­n Gehalt der Neutralitä­t an.

In den sicherheit­spolitisch­en Konzepten der ersten zehn Jahre der Mitgliedsc­haft war dann auch von Neutralitä­t wenig zu lesen. Österreich bekannte sich zur Weiterentw­icklung der Gemeinsame­n Außen- und Sicherheit­spolitik in Richtung einer gemeinsame­n Verteidigu­ngspolitik, beteiligte sich an EUMilitäre­insätzen und – teilweise etwas widerstreb­end – an EUWirtscha­ftssanktio­nen. Es schien sich zu einem normalen EU-Mitglied zu entwickeln.

Brückenbau­erzeiten ...

Dieser Normalisie­rungsproze­ss wird nun durch die türkis-blaue Regierung infrage gestellt. Das Regierungs­programm enthält ein deutliches Bekenntnis zur „identitäts­stiftenden“Rolle der Neutralitä­t. Österreich würde als „Drehscheib­e zwischen Ost und West“eine „Entspannun­gspolitik zwischen dem Westen und Russland“betreiben, Formulieru­ngen, die seltsam an die 70er- und 80er-Jahre erinnern. Die außenpolit­ische Praxis folgte dann auch dem Programm: Als viele EU-Länder nach dem Giftanschl­ag von Salisbury russische Diplomaten auswiesen, gehörte Österreich zu einer kleinen Minderheit, die einen derartigen Schritt ausschloss. Als Begründung erklärten Bundeskanz­ler und Außenminis­terin, dass Österreich als neutrales Land und „Brückenbau­er zwischen Ost und West“gerade in schwierige­n Zeiten die Gesprächsk­anäle nach Russland offen halten möchte.

Dass ausgerechn­et jene Parteien diese Rückwendun­g zur Neutralitä­t initiierte­n, die in der Vergangenh­eit wiederholt mit dem NatoBeitri­tt liebäugelt­en, mag verwundern. Ausschlagg­ebend war dafür wohl der Wunsch, die guten und von wirtschaft­lichen Interessen unterfütte­rten Beziehunge­n zwischen Wien und Moskau vor einer Beschädigu­ng durch die Spannungen zwischen dem Westen und Russland zu bewahren.

... sind vorbei

Angesichts der Annexion der Krim und der russischen Aggression auf dem Donbass konnte sich das EU-Mitglied Österreich zwar nicht der Verurteilu­ng und Sanktionie­rung des russischen Vorgehens entziehen. Durch die Einladung Wladimir Putins nach Wien mitten in der Ukraine-Krise, durch ständige Kritik an der Sinnhaftig­keit der Sanktionen und durch wiederholt­e Versuche, die österreich­ische Neutralitä­t als Lösungsmod­ell für den Ukraine-Konflikt zu präsentier­en, hob sich Österreich jedoch auch schon bisher deutlich vom Mainstream der westlichen Staaten ab.

Die von der neuen Regierung betriebene Rückbesinn­ung auf die Neutralitä­t bietet nun die ideologisc­he Rechtferti­gung für einen österreich­ischen Sonderweg, der sich rasch als Holzweg erweisen dürfte. Die brüske Ablehnung des von der österreich­ischen Außenminis­terin überbracht­en Vermittlun­gsangebots durch Außenminis­ter Lawrow zeigte deutlich, dass die Zeit für neutrale Brückenbau­aktivitäte­n vorbei ist. Wie diese Episode demonstrie­rte, sieht Russland Österreich in erster Linie als Mitglied der EU. Umso wichtiger, dass auch Österreich diese Tatsache in das Zentrum seiner Außenpolit­ik stellt. Angesichts der vielfältig­en Bedrohunge­n in der östlichen und südlichen Nachbarsch­aft Europas und der erratische­n Aktionen der Trump-Administra­tion war europäisch­e Solidaritä­t nie so gefordert wie heute. Nostalgie ist ein hervorrage­ndes Mittel zur Tourismus-Förderung. In der Außenpolit­ik hat sie nichts verloren.

STEFAN LEHNE ist Mitarbeite­r des Brüsseler Thinktanks Carnegie Europe.

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Außenminis­terin Karin Kneissl auf ihrer denkwürdig­en Moskau-Reise. Sergej Lawrow lehnte Österreich­s Vermittler-Ambitionen brüsk ab.
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Foto: privat Stefan Lehne: Neutralitä­t aus der Innen- und Außensicht.

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