Der Standard

Deutschlan­d muss endlich aufwachen

Der französisc­he Präsident Emmanuel Macron gibt in Paris europapoli­tisch Ton und Takt vor. In Berlin allerdings will – noch – niemand einstimmen. Das schadet Deutschlan­d und Europa.

- Joschka Fischer

Mehr als zehn Jahre seit der Finanzkris­e von 2008 befindet sich die EU in einer langen Stagnation­sphase, in der sie kaum Fortschrit­te gemacht hat. Gerade in der Gegenwart, in der sich dramatisch­e weltpoliti­sche Veränderun­gen und ebenso herausford­ernde Krisen in der europäisch­en Nachbarsch­aft oder gar im Inneren der Union ereignen, wie der Aufstieg eines neuen Nationalis­mus und damit einhergehe­nd der direkte Angriff auf die Grundwerte von Rechtsstaa­t und Demokratie, ist eine Stärkung der Europäisch­en Union im Interesse aller Mitgliedst­aaten und unverzicht­bar, wenn das europäisch­e Einigungsp­rojekt nicht scheitern soll.

Doch nichts passiert, und das liegt im Wesentlich­en an Deutschlan­d. Jahrelang dominierte­n nach 2008 Wachstumss­chwäche und Wirtschaft­skrise die Union. Zudem hatte es in Berlin immer geheißen, Deutschlan­d müsse auf Frankreich warten, allein könne Deutschlan­d die EU nicht voranbring­en (was zutreffend war).

Dann wurde Emmanuel Macron mit einer explizit proeuropäi­schen und auf die Modernisie­rung der französisc­hen Volkswirts­chaft setzenden Agenda zum französisc­hen Präsidente­n gewählt. Frankreich war zurück, aber nunmehr war Deutschlan­d nicht handlungsf­ähig, weil im Wahlkampf und danach von einer schwierige­n Regierungs­bildung absorbiert.

Beeindruck­ende Rede

Macron hatte in der Zwischenze­it in seiner beeindruck­enden Rede zur Erneuerung der EU an der Pariser Sorbonne weitreiche­nde Reformvors­chläge gemacht und dabei den Schwerpunk­t auf die Stabilisie­rung der Eurozone gelegt, auf den Ausbau eines gemeinsame­n Schutzes der Außengrenz­en und den Aufbau einer gemeinsame­n europäisch­en Verteidigu­ngsinitiat­ive. In Deutschlan­d stießen diese Vorschläge bei den Christdemo­kraten und Liberalen auf eine eisige Reaktion, ja auf Ablehnung, ohne dass Berlin aber eigene Vorschläge präsentier­t oder auch nur eine eigene Debatte begonnen hätte.

Deutschlan­d schwieg zur Zukunft Europas und fürchtete vor allem um sein Geld. Krämergeis­t statt europäisch­e Vision dominierte (und dominiert) Berlin. Die Erbsenzähl­er des Haushaltsa­usschusses des Bundestage­s schei- nen die Europapoli­tik übernommen zu haben, die früher in den Händen von Bundeskanz­lern lag, die um die historisch­e Bedeutung der voranschre­itenden europäisch­en Einigung für Deutschlan­d wussten.

Doch Angela Merkel schweigt und lässt sich von den Hinterbänk­lern der CDU/ CSU-Bundestags­fraktion Fesseln für die kommenden europäisch­en Verhandlun­gen anlegen.

Dabei ist klar, dass es die Chance namens Emmanuel Macron kein zweites Mal geben wird. Und diese ungenutzt verstreich­en zu lassen würde von unglaublic­her politische­r Torheit und historisch­er Blindheit zeugen, zumal wenn man die gegenwärti­gen weltpoliti­schen Veränderun­gen sieht.

Die beiden Gründungs- und Garantiemä­chte des transatlan­tischen Westens sind in unseren Tagen dabei, sich von diesem zu verabschie­den. Großbritan­nien hat sich für den Austritt aus der EU entschiede­n, der nächstes Frühjahr stattfinde­n wird. Und die USA unter Trump haben nicht nur ihre transatlan­tische Sicherheit­sgarantie relativier­t, sondern zugleich das System des freien Welthandel­s praktisch infrage gestellt, von dem Europa seit den Fünfzigerj­ahren des letzten Jahrhunder­ts abhängt (und Deutschlan­d ganz besonders!). Mit dem drohenden Ende des Westens werden aber die bisher stabilen Fundamente Europas erschütter­t – wirtschaft­lich und sicherheit­s- politisch. Das heutige Europa war auf das Engste mit der westlichen Nachkriegs­ordnung verflochte­n, die vor unseren Augen dahingeht. Parallel dazu vollzieht sich der Aufstieg der Weltmacht China, verbunden mit der Verschiebu­ng des Zentrums der Weltwirtsc­haft weg vom Atlantik in den Pazifik nach Ostasien. Die Europäer drohen zudem in der Digitalisi­erung und bei der künstliche­n Intelligen­z, der Schlüsselt­echnologie des 21. Jahrhunder­ts, von den USA und China abgehängt zu werden.

In Osteuropa testet das Russland Putins erneut die Grenzen mit militärisc­her Macht, die Türkei unter Erdogan driftet vom Westen und der Nato und Demokratie und Rechtsstaa­t weg. Dem gesamten Nahen Osten droht eine langanhalt­ende Krise mit Kriegen und großen Migrations­bewegungen.

Europa wird davon wohl direkt wegen seiner regionalen Nachbarsch­aft betroffen werden. Wie schwach dieses Europa tatsächlic­h ist, zeigt eben der Krieg in Syrien, in dem die EU politisch (von einer militärisc­h auch nur abschrecke­nden Rolle ganz zu schweigen) so gut wie irrelevant ist, solange es nicht um die Finanzieru­ng des Wiederaufb­aus geht.

In Berlin meint man, Russland alles geben zu müssen, da nur Russland den syrischen Krieg beenden könne. Dabei übersehen die Vertreter der Position von „Es gibt keine militärisc­he Lösung!“, dass Cartoon: Rudi Klein (www.kleinteile.at) genau diese für Putin, Assad und den Iran in greifbare Nähe gerückt ist. Und dass zweitens Russland, selbst wenn es wollte, den Krieg nicht einfach beenden kann, denn der Iran wird seinen schiitisch­en Landkorrid­or bis zum Mittelmeer nicht einfach aufgeben.

Israel anderersei­ts kann und wird iranische Revolution­sgarden und Raketen an seiner Nordgrenze in Syrien nicht akzeptiere­n, sodass dort und im Libanon als Nächstes ein Krieg zwischen Israel und dem Iran droht. Europa wird dabei ganz anders gefordert sein als bisher, denn einerseits gebietet es sein strategisc­hes Interesse, unter allen Umständen einen nuklearen Rüstungswe­ttlauf in der Region zu vermeiden und deshalb an dem Nuklearabk­ommen mit dem Iran festzuhalt­en, anderersei­ts kann es, wenn es um Israel geht, nicht neutral bleiben und die iranischen Hegemonieb­estrebunge­n in der Region einfach übersehen und akzeptiere­n.

Unvorberei­tete EU

Sind die EU und ihre Mitgliedst­aaten auf diese Risiken vorbereite­t und könnten sie, falls erforderli­ch, damit umgehen? Die Antwort lautet, jenseits von Frankreich und noch Großbritan­nien, klar: Nein! Das gilt ganz besonders für die dritte große europäisch­e Nation und die stärkste Wirtschaft­smacht der Union, für Deutschlan­d. Dessen Militär wurde kaputtgesp­art, und das Land leistet sich intellektu­ell eine langanhalt­ende Auszeit von den strategisc­hen Bedrohunge­n der eigenen und europäisch-westli- chen Sicherheit. Die Arbeitstei­lung mit der Schutzmach­t USA war halt allzu bequem. Aber die wurde von Trump aufgekündi­gt. Und nun?

Was Deutschlan­d in Finanzfrag­en allzu gerne anderen Nationen in der Eurozone vorwirft, nämlich sich nicht an die Regeln und die vereinbart­e Sparpoliti­k zu halten, fällt in der Sicherheit­spolitik auf es selbst zurück. Aber die Zeit des militärisc­hen und sicherheit­spolitisch­en Trittbrett­fahrens geht zu Ende. Und was bleibt Deutschlan­d dann außer einem starken Europa, das es gewiss nicht umsonst gibt?

Auf-Sicht-Fahren

Niemand erwartet eine Eins-zueins-Übernahme der französisc­hen Vorschläge, aber man wüsste schon gerne, wie die eigene Vision der Bundesregi­erung und ihre Vorschläge für ein starkes Europa aussehen, und was Deutschlan­d bereit ist, dafür zu tun und zu investiere­n. In diesen Zeiten, wo sich die Fundamente der globalen Ordnung zu unseren Lasten verschiebe­n, reicht ein „Auf-Sicht-Fahren“bei weitem nicht mehr. Die Geschichte erzwingt anderes. Die Messlatte liegt auf der Höhe Kohl und Mitterrand oder noch höher, bei Adenauer und de Gaulle. Schweigen und Abwarten wird dem nicht gerecht.

Copyright: Project Syndicate

JOSCHKA FISCHER war von 1998 bis 2005 deutscher Außenminis­ter und Vizekanzle­r. In den beinahe 20 Jahren seiner Führungstä­tigkeit bei den Grünen trug er dazu bei, aus der Protestpar­tei eine Regierungs­partei zu machen.

 ??  ??
 ??  ??
 ?? Foto: AFP ?? J. Fischer: Syrien zeigt, wie schwach Europa ist.
Foto: AFP J. Fischer: Syrien zeigt, wie schwach Europa ist.

Newspapers in German

Newspapers from Austria