Jenseits der Einäugigkeit
Natan Sznaider überzeugt und überrascht mit seinen „Gesellschaften in Israel“.
Dieses Buch eröffnet neue Perspektiven und bietet vielseitige Einsichten, weil es den klaren Blick jenseits der einäugigen Anschauungen wagt. Gesellschaften in Israel. Eine Einführung in zehn Bildern: Natan Sznaider ist mit seinem Band gelungen, woran die meisten Monografien über dieses Land scheitern, denn er versucht nicht, den Judenstaat und die Auseinandersetzungen, die um ihn wogen, auf einen Punkt zu bringen. Im Gegenteil: Was hier überzeugt und überrascht, ist die Widersprüchlichkeit, mit der uns Sznaider aufwartet.
Sznaider lehrt in Tel Aviv Soziologie. Mit Daniel Levy veröffentlichte er 2001 die herausragende Studie Erinnerung im globalen Zeitalter. Ich selbst durfte mit Sznaider zwei Bücher publizieren und bin mit ihm befreundet, doch mit seinen Gesellschaften in Israel weiß er mich ein weiteres Mal zu überraschen.
Momentaufnahmen
Natan Sznaider geht von Bildern aus, von Momentaufnahmen, mit denen er jene verschiedenen Aspekte durcharbeitet, die diesen kleinen Staat im Nahen Osten prägen. Er meidet nicht das Abseitige, nicht das Grelle und nicht das Dunkle. Er schildert ein Land, von dem kaum einer sagen kann, wie es überhaupt bestehen kann, doch ein jeder, selbst der schärfste Kritiker, muss zugeben, es besteht durchaus, allen Krisen zum Trotz und mit gar nicht so wenig Erfolg. Sznaider spricht über einen Staat ohne endgültige Gren- zen, der um seine Unabhängigkeit kämpft und zugleich Besatzungsmacht ist. Über eine Nation, die jüdisch und israelisch zugleich sein will. Die Hauptstadt Jerusalem ist gespalten, doch auch gänzlich ein Heiligtum, um das mehrere Religionen streiten. Israel ist nicht in Europa, doch aus Europa, ist innerhalb Asiens, aber kein Teil davon, und es liegt am Rande, doch weitab von Afrika.
Mischmasch aus Kulturen
Sznaider präsentiert diesen Mischmasch aus Gemeinschaften, aus Völkern, Kulturen und Religionen, doch bei ihm wird das alles nicht zum Einerlei und Sammelsurium, sondern zu einem Potpourri aus je einzelnen Menschen. Das Panorama, das er entwirft, ist ein Getümmel aus Israelis und Palästinensern, aus Ultrareligiösen und Regenbogenparadiesvögeln, aus Kriegstreibern und Friedensbewegten jüdischer, muslimischer, christlicher, drusischer, arabischer oder auch russischer Herkunft. Sakrale und säkulare Viertel grenzen eng aneinander. Das ist das Land der Bibel, der Überlebenden und der Start-ups zugleich.
Sznaider gibt den Gruppen, von denen er erzählt, Namen und Gesichter. Er stellt uns Menschen vor: die jungen Engagierten aus den neuen sozialen Bewegungen, die Menschenrechtsgruppen, die rechtsextremen Siedler, den hebräischen Literaturnobelpreisträger Samuel Joseph Agnon (siehe Porträt rechts, „Sehnsüchtiger Nobelpreisträger“), den kritischen Filmemacher Assi Dayan, den arabischen Fußballstar Walid Badir aus der Nationalelf, die Papierlose Asmait Marshion aus Eritrea, die queere Dana International, Siegerin des Eurovision Song Contest ’98 und wie sie ein neues Bewusstsein in ganz Israel, bis hinein in die Armee, repräsentiert. Wir hören von den ethnischen Stereotypen, die im Verhältnis zwischen den orientalischen und den westlichen Juden, den Misrachim und den Aschkenasim, vorherrschen. Sznaider erzählt von Yitzhak Rabin, von dessen Nimbus, von dessen Ermordung, doch erspart uns auch nicht die Konfrontation mit seinem Attentäter und mit dessen ideologischer Welt.
Sznaider weigert sich zu Recht, ein ganzheitlich geschlossenes Bild von Israel zu offerieren, sondern verblüfft uns immer wieder mit Unerhörtem. Nie macht er klar, ob seine Kritik und seine Analysen von rechts oder von links kommen, denn niemand wird von ihm geschont. Keiner entgeht seinem scharfen Urteil. Er weitet unseren Blick.
Das Buch ist der Beweis, was moderne Soziologie vermag. Wir lesen und wir staunen über die Vielfalt eines Landes, das nur im Plural existiert. Aber vor allem ist Sznaiders Werk mehr als die Darstellung des einen Staates Israel, da er mit seinem präzisen Blick auf dieses Land viel über manche anderen westlichen Gesellschaften verständlich macht, doch ebenso über die Zeit, in der wir leben.
Er löst keine Konflikte
Sznaiders Stärke liegt in seiner Weigerung, sagen zu wollen, was Israel sein soll, sondern er redet davon, was es – entgegen allen Erwartungen – geworden ist, wobei dagegen eingewendet werden mag, es werde so ausgeblendet, was noch geschehen könnte. Aber Sznaider löst keine Konflikte, und er löst auch die Gegensätze nicht auf, sondern er lässt sie auf uns einwirken. Er erklärt, Israel sei „ein Land, in dem heute grundlegende Fragen von Nationalstaatlichkeit geradezu beispielhaft erprobt werden“.
Zum Schluss – in den letzten Zeilen seines Buches – erinnert der Autor Natan Sznaider allerdings doch an eine Zuversicht und an die Vision vom Judenstaat aus früheren Zeiten: „Nicht umsonst ist die israelische Nationalhymne der Hoffnung gewidmet. Franz Kafka soll einst geschrieben haben: ‚Es gibt unendlich viel Hoffnung, nur nicht für uns.‘ Doch es ist in meinen Augen der einzige Weg, der Israel und der Region eine Zukunft ermöglicht. Das ist das, was ,jüdisch und demokratisch‘ im Endeffekt heißt.“
Hatte David Josef Grün es sich so vorgestellt, als er Ende August 1906 im Hafen des quirligen, kosmopolitischen Odessa an Bord des Schiffes gegangen war? Oder in den Jahren zuvor, als er in Warschau zwei Jahre lang gelernt hatte, um an einer jüdischen Technischen Hochschule angenommen zu werden? Oder in seinem Heimatstädtchen Płońsk, wo der 1886 Geborene, dessen Mutter kurz nach seinem elften Geburtstag gestorben war, hebräische Zeitungen verschlungen hatte und Zionist geworden war?
War die Zwischenstation Izmir ihm märchenhaft erschienen, was atmosphärisch zu beschwören dem leidenschaftlichen Leser und Schreiber nicht schwerfiel, so war die ersehnte Ankunft in Palästina ganz und gar nicht so, wie er erwartet hatte.
Damals Teil des Osmanischen Reiches, das bereits unübersehbar mürbe und matt war, waren seit 1880 annähernd 30.000 Juden eingewandert, die meisten aus Osteuropa. Sie, als „Aschkenasen“bezeichnet, suchten Heil und Überleben. Geflohen waren sie vor Pogromen in Russland und in der Ukraine, vor dem immer rabiateren Antisemitismus in Europa. Sehr bald hatte die Zahl der Aschkenasen die der Sepharden, der Nachfahren der 1492 von der katholischen Inquisition aus Spanien vertriebenen Juden, übertroffen. Sie wohnten in Städten, zumeist in Jerusalem.
Und nun war dieser eher kleine, eher schmächtige Zwanzigjährige, ein Berufsloser, im Hafen von Jaffa und hatte Angst. Araber sollten ihn an Land rudern, sie schrien, sie brüllten, sie gestikulierten wild und waren so muskulös wie stolz. Und die Stadt Jaffa erst! Staubig, eng, verwinkelt. „Ich hasste sie“, schrieb er seinem Vater nach Płońsk: „Sie war schlimmer als Płońsk.“Bald brach er auf in die kleine jüdische Siedlung Petach Tikwa, die 1878 gegründete, somit älteste Moschawa im Heiligen Land, eine Siedlungsform, bei der im Gegensatz zu den Kibbuzim Land und Betriebe privater Eigentum sind.
Grün war in der Dekade vor dem Ersten Weltkrieg einer von rund 35.000 Juden, die nach „Eretz Israel“kamen. Er schuftete, hungerte, fror, war einsam, machte regelmäßig Malariaschübe durch, arbeitete in Zitronen- und Orangenhainen, verstreute den ganzen Tag lang Haufen von Dung. Gelegentlich hielt er in größeren Runden eine Rede. Bald wurde daraus ein Beruf, er ein trotz etwas schriller Stimme magnetischer Rhetor, vor allem aber ein hochbegabter Organisator.
Der Löwe Israels
42 Jahre nach seiner Ankunft wurde aus ihm der Vater eines neuen Staates – Israel. Und David Josef Grün, der seinen Namen längst hebräisiert hatte in David Ben-Gurion, mit den schlohweißen, wirr abstehenden Haaren war der bekannteste, populärste und mächtigste Politiker seines blutjungen Landes.
Der Historiker Tom Segev, ein Kenner der Geschichte Israels, legt nun eine Lebensbeschreibung BenGurions vor, der in eine Riege mit anderen großen Staatsmännern des 20. Jahrhunderts gehört, mit Churchill, Adenauer, de Gaulle. So wie diese war er tief im 19. Jahrhundert geboren worden. So wie diese prägte er die Zeit nach 1945 auf entscheidende Art. Und so wie Biografien dieser Politikergeneration – auch eine 2017 erschienene Biografie über Golda Meir ist mit 824 Seiten um nicht eine Seite zu kurz – imposant sein müssen, ist auch Segevs Buch lang, materialintensiv und reich an Details.
Segev zeichnet kundig Ben-Gurions Weg von Polen nach Palästina nach, dort dann die Karriere des liberalen Sozialisten in der Gewerkschaft Histadrut, die, 1920 gegründet, sehr rasch immer größer wurde, zu einem Quasi-Staat im seit 1918 von den Briten verwalteten Mandatsgebiet, sich diversifizierte mit Zinshausbau, Bankgründung, Arbeitsvermittlung. Mittendrin Ben-Gurion, machtbewusst, erfolgreich, Mitgründer der Mapai, der Arbeiterpartei, als Ehemann und Vater aber eine Katastrophe.
Es ist ein beeindruckendes Charakterbild von Ben-Gurion, der überbordend widersprüchlich war: von sich und seinem Tun zutiefst überzeugt („Wichtig ist nicht so sehr, was die Gojim sagen, sondern was die Juden tun“), bei Fehlern ins „wir“verfallend und sie so von sich weisend, kleinlich und ungerecht, leidenschaftlich und mitreißend, verbohrt einseitig und Humanist, erotisch ent-