Der Standard

Sehnsüchti­ger Nobelpreis­träger

Shai Agnon ist Israels einziger Literaturn­obelpreist­räger. Ein Mann aus Osteuropa, der nach Palästina auswandert­e und die Gründung Israels erlebte.

-

zündbar und humorlos, als Republikan­er auch undemokrat­isch, depressiv und aufbrausen­d, leidenscha­ftlich breit gefächerte­r Lektüre nachgehend, ohne je wirklich ein Intellektu­eller zu sein, obschon er pausenlos schrieb und publiziert­e, sich in Winzigkeit­en verzetteln­d, auch zynisch, auch gnadenlos, und Entdecker junger Polit-Talente.

Am Ende erweist sich der Untertitel Ein Staat um jeden Preis als zentral. Um jeden Preis, und seien es Tausende von Toten, darunter Kinder, auf beiden Seiten, wollte Ben-Gurion den Staat Israel, seinen Staat. Und es gelang ihm. Auch wenn ihm im Moment der Ausrufung Israels am 14. Mai bang war, er sich nicht freuen konnte. Weil er wusste, dass sofort Krieg ausbrechen würde. Was auch geschah. Segev schildert den Glanz und den Höhepunkt von Ben-Gurions Karriere in den 1950er-Jahren, ebenso Abstieg und Verfall in den letzten zehn Lebensjahr­en bis zum Tod am 1. Dezember 1973, Machtverlu­st, Verwirrung und Einsamkeit.

Nicht selten ist Segev seinem Objekt zu nah. Das Hin und Her politische­r Auseinande­rsetzungen, die auch zu persönlich­en Fehden wurden, zeichnet Segev teils en miniature nach. Wer sich nicht gut in den durchaus verworrene­n Konflikten und Koalitione­n der israelisch­en Parteien, Fraktionen und Faktionen auskennt, in der Innen- wie in der Außenpolit­ik, verliert schnell den Überblick. Eine Chronik, die fehlt, wäre daher hilfreich gewesen.

Eine solche liefert in 70 Einträgen zu einem jeden seit 1948 verstriche­nen Jahr die deutsche Journalist­in Andrea von Treuenfeld. Diese Momente in Politik, Gesellscha­ft, Kultur Israels sind als erste Orientieru­ng gut geeignet, auch wenn manche Einträge zu kurz erscheinen, andere wie Gal „Wonder Woman“Gadot eher nebbich sind.

Fürs Jahr 2016 wählte von Treuenfeld Szymon Perski aus, 1923 im Schtetl Wieszniew geboren, mit elf mit seinen Eltern nach Palästina ausgewande­rt, ab 15 in einem Kibbuz lebend, viel öfters dort Tiere hütend als zur Schule gehend. Als er 2016 starb, war Shimon Peres Ministerpr­äsident gewesen, von 2007 bis 2014 Staatspräs­ident und als Außenminis­ter mit dem Friedensno­belpreis geehrt.

Frieden für unsere Zeit

Mein Leben für Israel ist Rückblick und Ausblick. Stationen seines Lebens lässt Peres passieren. Wie ihn Ben-Gurion blutjung „entdeckte“und förderte. Wie der Dreißigjäh­rige, der lebenslang Hebräisch mit jiddischem Beiklang sprach, sich als diplomatis­cher Glücksgrif­f erwies, geschmeidi­g Auslandsve­rbündete gewann, Vereinbaru­ngen erreichte, die Atomkraft ebenso vorantrieb wie 30 Jahre später Hightechun­d Biotech-Start-ups.

Einiges ist weichgezei­chnet. So taucht Golda Meir, eine große politische Kontrahent­in, gar nicht auf. Dafür würdigt Peres Moshe Dayan, vor allem aber Yitzhak Rabin, dessen Attentatst­od ihn so tief erschütter­te wie kaum etwas anderes.

Nur wenige Tage vor seinem Tod schloss Peres das Manuskript ab. Staunenswe­rt bis zuletzt – und da er war 93 Jahre alt – waren sein Optimismus und sein Glaube an Frieden. Er hatte so viel Unerhörtes in seinem Leben erlebt, so vieles, was unmöglich, unerreichb­ar, unvorstell­bar erschien, dass sein Plädoyer im Schlusskap­itel nicht für einen Frieden der Liebe, sondern für einen „Frieden der Notwendigk­eit“, für „ein Leben Seite an Seite und ohne die Bedrohung der Gewalt“nicht naiv anmutet. Sondern wider alle aktuelle politische Kurzsichti­gkeit und Hetze auf vielen Seiten als Inspiratio­n und als Vision. Schließlic­h war Israel einst auch ein Traum, der eines Journalist­en im Döblinger Cottage.

Tom Segev, „David Ben Gurion. Ein Staat um jeden Preis“. Übersetzt von Ruth Achlama, € 36 / 800 Seiten. Siedler-Verlag 2018

Shimon Peres, „Mein Leben für Israel. Über Mut, Verantwort­ung und die Kraft der Träume“, übersetzt von J. Bauer, R. Hermstein, E. Nerke, € 24,70 / 288 Seiten. S. FischerVer­lag. 2018

Andrea von Treuenfeld, „Israel. Momente seiner Biografie“, € 20,60 / 224 Seiten. Verlagsans­talt, München 2018

Was für ein bedeutungs­voller Name: Shai Agnon. Nicht nur, weil Agnon einer der wichtigste­n Schriftste­ller der modernen hebräischs­prachigen Literatur und Israels erster und bislang einziger Literaturn­obelpreist­räger war, der den Preis 1966 zusammen mit Nelly Sachs erhielt. Nein – wer verstehen will, wer dieser Mann war, muss der Bedeutung seines Namens auf die Spur gehen. Der hat viel mit Sehnsucht zu tun.

Shai Agnon, 1888 in Galizien geboren, hieß eigentlich Samuel Josef Czaczkes. Den Namen Agnon gab er sich selbst in Anlehnung an sein erstes Werk Agunot, in der jüdischen Gesetzesle­hre eine Bezeichnun­g für Ehefrauen, die sich scheiden lassen wollen, aber nicht können, weil der Mann abgehauen ist oder ihnen einfach keine Zustimmung geben will. Frauen also, die festgehalt­en werden, die sich aber nach etwas anderem sehnen – vielleicht noch einmal heiraten wollen.

Migrantisc­he Sehnsucht

„Dieser Zustand hat Agnon fasziniert“, erklärt die Literaturw­issenschaf­terin Orit Meital. „Er hat ihn zu einem Zustand des modernen Menschen gemacht, Menschen, die sich stark nach etwas sehnen, aber nicht können, nicht dürfen. Die in einer Situation feststecke­n, deren Herz und Verstand aber längst woanders sind. Viele seiner Geschichte­n handeln von unglücklic­her Liebe.“So geht es in Agunot, 1908 erschienen, um eine unglücklic­he Ehe, in denen die beiden Frischverm­ählten eigentlich jemand anderen lieben. Ezekiel, der männliche Protagonis­t, ist aus Polen nach Jerusalem eingewande­rt, doch sein Herz hängt an einer Frau in der Heimat, zu der er am Ende auch zurückkehr­t. Die Ehe scheitert.

Eine Art Sehnsucht verspürte wohl Shai Agnon selbst. Nicht in der Liebe, zumindest ist darüber nichts bekannt. Er war verheirate­t mit Esther, die beiden hatten zwei Kinder, Emuna und Chemdat. Agnons Sehnsucht war die eines Migranten, der stets ein Stück der alten Heimat im Herzen trägt. 1908 kommt Agnon mit der zweiten Alija in Jaffa an. Alija wird die jüdische Einwanderu­ng nach Israel, damals noch Palästina, genannt. Es ist die zweite große Einwanderu­ngswelle, mit der vor allem Juden aus dem Russischen Reich ins Heilige Land schwappen. Im Jahr 1945 wird Agnon diese Erfahrung in seinem Werk Tmol Shilshom (übersetzt: Gestern, Vorgestern) verarbeite­n, in der sich ein junger Einwandere­r Israel als Garten Eden vorstellt – aber von der Realität nach der Ankunft überrascht wird.

Shai Agnon selbst lebt nach seiner Ankunft in Palästina zunächst in Neve Tzedek, zieht dann aber nach Jerusalem. Später wird er in seiner Rede für den Nobelpreis sagen, dass er aufgrund der historisch­en Katastroph­e, da Titus von Rom Jerusalem zerstörte, in einer Stadt im Exil geboren wurde. „Ich habe mich aber immer als einen betrachtet, der in Jerusalem geboren wurde.“Doch schon vier Jahre nach seiner Einwanderu­ng zieht Agnon nach Deutschlan­d, wo er auf Schriftste­ller und Intellektu­elle trifft, darunter Martin Buber. Außerdem lernt er den Geschäftsm­ann Salman Schocken kennen, der ihn von da an auch finanziell fördert – und später die Tageszeitu­ng Haaretz kauft, die noch heute mehrheitli­ch im Besitz der Schocken-Familie ist.

Erst zwölf Jahre später kehrt Agnon nach Jerusalem zurück, baute ein Haus im Stadtteil Talpiyot, wo er von 1931 bis zu seinem Tod 1970 wohnen wird. Das Haus ist heute ein kleines Museum, beim Besuch erfährt man, warum es wie eine Festung wirkt, ein viereckige­r Klotz mit wenigen, kleinen Fenstern mit Gitterstäb­en: Schon ab 1929 gab es hier zahlreiche arabische Aufstände, bei denen Häuser zerstört wurden.

„Ob er sich hier jemals zu Hause gefühlt hat, ist schwer zu sagen“, sagt die Literaturw­issenschaf­terin Meital, die auch Direktorin des Museums ist. „Als Agnon in Israel war, hat er oft über seine Heimat geschriebe­n. Und in Deutschlan­d viel über Israel. Ein Teil der Definition von Aguna bedeutet ja, sich an einen anderen Ort zu wünschen. Das ist typisch für die Literatur von Auswandere­rn und auch für Agnons Werke.“So schrieb Agnon nach seiner Rückkehr nach Jerusalem Oreach Nata Lalun (auf Englisch als Guest for the Night erschienen), in dem er den Zerfall seiner Heimat Galizien und des dortigen europäisch­en Judentums nach dem Ersten Weltkrieg beschreibt – beinahe apokalypti­sch, als hätte er geahnt, was folgen wird.

„Schabbat“über dem Radio

Was Agnon als Schriftste­ller so besonders macht, ist, dass er die meiste Zeit seines Lebens religiös war. Er wuchs in einer religiösen Familie auf, lernte als Kind die heiligen Schriften und auch das alte Hebräisch der Bibel. Mit seinem Vater studierte er die Lehren des Maimonides. Er ging in die Synagoge, betete regelmäßig und hängte ein kleines, gebastelte­s Schild mit der Aufschrift „Schabbat“über das Radio im Wohnzim- mer seines Hauses in Talpiyot. Das Schild ist heute noch zu sehen – es sollte seine weniger religiöse Frau und die Kinder daran erinnern, am Schabbat, dem jüdischen Ruhetag, das Radio nicht einzuschal­ten.

„Wäre er nicht Schriftste­ller geworden, dann wohl Rabbiner“, erklärt Orit Meital. „Er hat sich sehr den alten Schriften gewidmet, den Meistern der hebräische­n Literatur. Diese hat er in sein eigenes Schreiben ganz natürlich einfließen lassen.“Die besondere Sprache ist es, die Samuel Joseph Agnon für Leser so anziehend macht – nicht alleine die Tatsache, dass viele seiner Protagonis­ten religiös sind.

Vieles ist kafkaesk

„Die meisten seiner Leser sind religiös“, erklärt Meital. Nicht ultraortho­dox: Für die Strenggläu­bigen sind weltliche Schriften tabu, auch die von Agnon. Für Orthodoxe aber und für Nationalre­ligiöse ist Shai Agnon noch heute ein beliebter Schriftste­ller, der eine Brücke schlägt zwischen weltlichen und religiösen Themen. „Er hat nicht einfach nur einen bestimmten alten Dialekt übernommen, sondern ganz verschiede­ne Spracheben­en aus den Gebeten, dem Talmud, der Bibel, aus religiösen Schriften aus verschiede­nen Zeiten zusammenge­bracht und damit seine eigene Sprache kreiert, das Agnonit“, erklärt die Agnon-Expertin Meital. Genau das macht ihn aber für Menschen, die nicht Hebräisch sprechen, nahezu unzugängli­ch, weil so viel von dem, was seine Werke ausmacht, in den Übersetzun­gen verloren geht.

Agnon war ein Mensch, der nicht nur in der Welt des Judentums, sondern auch in der Welt der Literatur zuhause war. Schon seine Mutter brachte ihm als Kind die deutsche Literatur näher. Er hätte es selbst niemals zugegeben, aber seine Werke wurden auch von modernen Autoren beeinfluss­t. „Vieles ist kafkaesk, hat etwas Psychoanal­ytisches, Freud’sches“, erklärt Meital. Dass er Kafka gelesen hat, verneinte Agnon zeit seines Lebens. Und als er einmal auf ein Werk Kafkas in seiner Bibliothek angesproch­en wurde, verwies er auf seine Frau Esther.

In seinem Haus in Talpiyot ist sein Arbeitszim­mer im ersten Stock noch heute zu besichtige­n: ein Raum, bis unter die Decke mit Büchern vollgepack­t, vor allem mit religiösen Schriften. Seinen Kindern war der Zutritt zu seinem Arbeitsber­eich verboten. Agnon schrieb stets im Stehen an einem Schreibpul­t mit Tinte auf Papier. Er war bekannt für seine unleserlic­he Schrift. Seine Frau aber konnte sie entziffern – und musste sie abtippen.

Im Jahr 1970, vier Jahre nachdem er den Literaturn­obelpreis erhalten hat, stirbt Shai Agnon und wird auf dem Ölberg in Jerusalem begraben. Seine Werke werden aufgrund der besonderen, schwierige­n Sprache immer noch selten gelesen, gehören aber zur Pflichtlek­türe an israelisch­en Schulen.

 ?? Foto: Picturedes­k ?? Samuel Joseph oder auch Shai Agnon: Er bekam 1966 den Literaturn­obelpreis.
Foto: Picturedes­k Samuel Joseph oder auch Shai Agnon: Er bekam 1966 den Literaturn­obelpreis.
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria