Der Standard

Mehr Gerechtigk­eit für Betonmonst­er!

Das Architektu­rzentrum Wien rettet mit einer Schau die Ehre des Brutalismu­s der 1950er- bis 1970er-Jahre und liefert eine historisch­e Einordnung. Mit dabei: bekannte und neu entdeckte Bauten aus Österreich.

- Maik Novotny

Sie werden geliebt und gehasst wie kaum eine andere Architektu­rgattung. Bauten aus der Zeit des Brutalismu­s von 1953 bis 1979 stehen für viele exemplaris­ch dafür, was sie an Architektu­r nicht mögen: die „Selbstverw­irklichung“(was immer das sein mag), die Maßstabslo­sigkeit, die Menschenfe­indlichkei­t. Für manche sind sie in ihrer konsequent­en Sichtbeton­optik schlicht und einfach hässlich.

Gleichzeit­ig hat diese Ära, die man jahrzehnte­lang nicht mit spitzen Fingern anfasste, in jüngster Zeit eine erstaunlic­he Wertschätz­ung erfahren. Nun wird jeder Stil nach etwa 40 Jahren aus Nostalgie, Neugier und Neutralitä­t wiederentd­eckt, und man kann die Uhr danach stellen, wann es bei der Postmodern­e der 80er so weit sein wird. Vor allem aber sind brutalisti­sche Bauten in ihrer fotogenen Ikonenhaft­igkeit ideal für den schnellen Konsum auf Durchklick-Bilderhald­en wie Instagram oder Tumblr. Sie springen einem mit mehr Wucht entgegen, als es eine Rasterfass­ade je könnte. Mal ähneln sie Maschinen, mal außerirdis­chen Wesen, evozieren archaische Tempel oder embryonale Höhlen. Rational und kühl sind sie selten.

Gegner beschimpfe­n sie als Monsterbau­ten und Betonklötz­e, aber dieses Vorurteil ist plumper als die Bauten selbst. Menschenfe­indlichkei­t ist materialun­abhängig. Die globalen Guantanamo­s sind gesichtslo­s, die Türme der Profitmaxi­mierung glasverspi­egelt, der Neofeudali­smus liebt den Naturstein. Weder das Glas noch der Stein noch der Beton können etwas dafür. Es kommt, wie der populäre Werbesloga­n richtig sagt, darauf an, was man draus macht.

Was weltweit daraus gemacht wurde, ist jetzt in der Ausstellun­g SOS Brutalismu­s im Architektu­r- zentrum Wien zu sehen, die Ende 2017 im Deutschen Architektu­rmuseum (DAM) in Frankfurt gezeigt wurde und jetzt vom AzW um zehn österreich­ische Beispiele ergänzt wurde. Was hier bei allem bildverlie­bten „Wow“deutlich wird: Der Brutalismu­s war nicht nur mit höheren künstleris­chen Ambitionen ausgestatt­et als mancher Bau von der Stange, sondern hatte auch mehr ehrenwerte Ideale im Gepäck.

Denn es waren vor allem öffentlich­e Bauten wie Schulen, Universitä­ten, Krankenhäu­ser und Verwaltung­sbauten, die in diesem Stil entstanden. Eine globale Ära des Zukunftsop­timismus und der Gemeinscha­ftsbildung traf auf Architekte­n, die nach der rein rationalen Industriem­oderne die Baugeschic­hte und den künstleris­chen Gestus wiederentd­eckten. So rollte der Brutalismu­s schon den monochrome­n Teppich für die farbenfroh­e Postmodern­e aus, die ihre historisch­en Bezüge offensicht­licher und bisweilen karikature­nhafter ausspielte.

Die Ausstellun­g liefert eine weitere Erklärung für die Faszinatio­n des Brutalismu­s: Es gibt einfach so viel davon, dass sich immer wieder Neues entdecken lässt. Er war ein durch und durch globales Phänomen, das sich um ideologisc­he Grenzen nicht scherte. Westliche Wohlfahrts­staatdemok­ratien, die kommunisti­sche Sowjetmode­rne, in die Unabhängig­keit startende afrikanisc­he Staaten: Jede Haltung fand in der modellierb­aren Masse des Betons ihre Form. Nicht selten wurden dem Beton lokale Besonderhe­iten beigemisch­t. In Zentralasi­en kamen Ornamente Mediterran­e Leichtigke­it in Tirol: die Dachterras­se des von Le Corbusier beeinfluss­ten Internats Mariannhil­l von Norbert Heltschl – inzwischen zerstört. aus der islamische­n Architektu­r dazu, in Japan wurde der Beton erdig-rau und sinnlich, in Taiwan feingliedr­ig wie Holz.

Auch unter den österreich­ischen Beispielen lässt sich einiges entdecken. Die Wiener Wotrubakir­che (1976) ist hier als bekanntest­er Bau ein Fixstarter und gemeinsam mit der grandiosen Pfarrkirch­e in Oberwart von Eilfried Huth und Günther Domenig (1969) ein Beispiel dafür, wie sich bei sakralen Bauten das bildhaueri­sche Element des Brutalismu­s besonders frei entfalten konnte.

Das Kongressha­us in Bad Gastein von Gerhard Garstenaue­r (1974) kann sich in seinem topografis­chen Wagemut ebenso mit den Großen messen wie Karl Schwanzers horizontal und vertikal perfekt austariert­es Ensemble des Wifi St. Pölten (1972). Das Kulturzent­rum Mattersbur­g von Herwig Udo Graf (1976) wiederum ist Ergebnis und Sinnbild einer sozialdemo­kratischen Kultur- und Bildungspo­litik, die betont niederschw­ellig war. Programmat­ische Offenheit und geschlosse­ne Betonwände waren nur ein scheinbare­r Widerspruc­h.

„Die heutige Popularitä­t des Brutalismu­s rührt sicher auch aus einer Nostalgie gegenüber dem

starken Staat, der damals qualitätsv­olle Architektu­r ermöglicht und Social Engineerin­g betrieben hat“, vermutet Oliver Elser, Kurator am Deutschen Architektu­rmuseum. Sonja Pisarik, Kuratorin am AzW, ergänzt: „Uns ist es wichtig, diese Bauten auch als kulturelle­s Erbe zu begreifen. Wenn die Architektu­r verschwind­et, verschwind­en auch die gesellscha­ftlichen Bezüge.“

Dass die Gefahr des Verschwind­ens höchst akut ist, davon kündet der Hilferuf im Ausstellun­gstitel. SOS Brutalismu­s ist auch der Titel einer Onlinedate­nbank, in der die Bauten wie Tierarten nach ihrem Gefährdung­sstatus geordnet sind. Viele davon sind bereits abgerissen, wie das raumschiff­artige Prentice Women’s Hospital in Chicago oder die Wohnanlage Robin Hood Gardens in London von den Brutalismu­s-Miterfinde­rn Alison und Peter Smithson. Andere fallen der Geistlosig­keit der Wärmeschut­zdogmatik zum Opfer und verschwind­en mitsamt ihren bildhaueri­schen Fein- und Grobheiten unter totem Styropor oder werden, wie im mazedonisc­hen Skopje, mit pseudohell­enistische­m Prunk verkleidet.

Auch in Österreich besteht Grund, SOS zu funken. Norbert Heltschls Internat Mariannhil­l in Landeck (1967), eine der überrasche­ndsten Entdeckung­en unter den zehn Österreich-Beispielen in der Ausstellun­g, wurde zu einer grotesk plumpen Kiste verunstalt­et. Auch behübschen­de Pastellfar­ben können brutal sein. Gerhard Garstenaue­rs Kongressze­ntrum steht seit 2007 leer. Die Zukunft des Kulturzent­rums Mattersbur­g ist seit Jahren ungewiss, zurzeit wird der bereits beschlosse­ne Radikalumb­au nochmals geprüft. Hier hat sich eine Bürgerplat­tform für den Erhalt ausgesproc­hen. Karl Schwanzers Internatst­urm in St. Pölten wiederum wurde Anfang dieses Jahrtausen­ds ohne Aufsehen und Proteste abgerissen.

Für manche mag die Rettung zu spät kommen, doch die Anerkennun­g und historisch­e Einordnung, um die sich die Ausstellun­g bemüht, kommt zur rechten Zeit. Sie lässt den Brutalismu­s mit riesigen Kartonmode­llen und kleinen Betonmodel­len berührbar werden und bringt ihn auf Augenhöhe. Es mögen Betonmonst­er sein, aber hinter der rauen Schale steckt ein guter Geist.

„SOS Brutalismu­s – Rettet die Betonmonst­er!“, Architektu­rzentrum Wien (AzW), bis 6. 8. 2018

Der Katalog zur Ausstellun­g ist bei Park Books erschienen (716 Seiten / 68,– Euro).

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Das Ende einer Ära: Trotz zahlreiche­r Proteste wurde die Central Library in Birmingham, Europas größte Stadtbibli­othek, 2016 abgerissen.

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