„Wir dürfen nicht nachgeben bei der Verteidigung der Demokratie.“Emmanuel Macron
Um darzulegen, was uns das europäische Aufbauwerk seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gebracht hat, sagen wir oft, es habe uns 70 Jahre Frieden gebracht. Das ist auch richtig. Europa hat ein historisches Wunder erlebt. 70 Jahre Frieden zwischen den Feinden von gestern. (...) Das ist ein Schatz, der unbezahlbar ist, der auf unserem Kontinent davor nie verfügbar war. Wenn ich etwa an Polen denke, an die Völker der alten Tschechoslowakei, an Portugal, an Spanien, an das ehemalige Ostdeutschland, an alle unsere Brüdervölker, (...) kann man da wirklich gelassen aussprechen, dass sie 70 Jahre Frieden, Freiheit und Wohlstand gekannt haben? In Ex-Jugoslawien? (...) Während einige Nationen in Europa den Weg der Freundschaft und der Kooperation eingeschlagen haben, haben andere noch in jüngster Zeit das Brandmal des Totalitarismus, des Nationalismus, sogar des Völkermordes, des Bürgerkrieges und der militärischen und politischen Unterwerfung erleben müssen. (...) Wir haben ein Erbe zu pflegen. Die Geschichte ist immer noch gezeichnet von der Tragik. (...) Jede Generation muss mit aller Kraft die Hoffnung wiederbeleben. (...)
Bei der ersten Karlspreis-Verleihung 1950 war von dieser Hoffnung die Rede. Der Traum war der einer Einheit, einer Eintracht trotz aller Unterschiede, in einer großen Gemeinschaft, die in dieselbe Richtung ging, mit einem gemeinsamen Horizont. (...) Dieser Traum von Einheit ist heute von Zweifeln durchzogen. Wir müssen ihn mit Leben erfüllen. Sonst stirbt er. (...) Ich möchte hier vier Überzeugungen vortragen, vier Gebote, kategorische Imperative, Aufrufe zum Handeln. (...) Der erste Imperativ ist einfach: Wir dürfen nicht schwach sein, wir dürfen nicht unterliegen. Wir stehen vor großen Bedrohungen, großen Unsicherheiten, die unsere Völker umtreiben und täglich ihre Beunruhigung nähren. Die Frage ist, ob wir uns dem unterwerfen, ob wir die Regeln der anderen und die Tyrannei der Ereignisse hinnehmen oder ob wir für uns selbst eintreten, für unsere grundlegende Eigenständigkeit. Wer entscheidet für unsere Mitbürger über die Regeln? Die Regierungen im Ausland vielleicht, die ihre eigene Propaganda betreiben? (...) Wir dürfen das nicht hinnehmen, wir brauchen eine europäische Souveränität.
Der zweite Imperativ ist: Wir dürfen uns nicht aufspalten lassen. Die Versuchung ist groß in diesen unruhigen Zei- ten, sich auf das eigene Territorium zurückzuziehen, Nationalismus zu betreiben, zu denken, man könne die Dinge besser im nationalen Rahmen lösen. Wir haben mit dem Brexit Alarmsignale gehört, aber auch in Italien, Ungarn, Polen, überall ist diese Musik des Nationalismus zu hören. Das ist für viele ein Faszinosum. Aber wir sollten stattdessen an den karolingischen Traum denken. Wir müssen das unseren Völkern vor Augen führen. Spaltungen wären tödlich. Stacheldrahtzäune tauchen überall in Europa wieder auf, auch in den Köpfen. (...) Spaltung treibt uns in die Untätigkeit, drängt uns in den Stellungskrieg.
Unser dritter Imperativ muss sein: Wir dürfen keine Angst haben. Keine Angst vor der Welt, in der wir leben. (...) Wir dürfen unsere Grundsätze nicht verraten, nicht Angst haben vor dem, was wir sind. (...) Wir sind heute im Angesicht all der Unsicherheiten mit Versuchungen konfrontiert, die Fundamente unserer Demokratien und Rechtsstaaten aufzugeben. Wir dürfen hier nicht nachgeben, keinen Zoll, keine Handbreit bei der Verteidigung der Demokratie.
Der letzte Imperativ, wie ich ihn sehe: Wir dürfen nicht warten. Wir müssen jetzt handeln. (...) Wir müssen eine ehrgeizige Wahl treffen und unseren Bürgern wieder eine Vision für die nächsten 30 Jahre geben, die es uns erlaubt, in kleinen Schritten weiterzugehen. Denn die Nationalisten äußern sich klar, die Demagogen führen eine klare Sprache. (...) Wer Europa will, muss genauso klar sein, mit allem Ehrgeiz voranpreschen.
Am Donnerstag erhielt Macron in Aachen den Karlspreis: seine Rede für ein solidarisches, einiges Europa.