Der Standard

„Wir dürfen nicht nachgeben bei der Verteidigu­ng der Demokratie.“Emmanuel Macron

- Übersetzun­g und Zusammenfa­ssung: Thomas Mayer

Um darzulegen, was uns das europäisch­e Aufbauwerk seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gebracht hat, sagen wir oft, es habe uns 70 Jahre Frieden gebracht. Das ist auch richtig. Europa hat ein historisch­es Wunder erlebt. 70 Jahre Frieden zwischen den Feinden von gestern. (...) Das ist ein Schatz, der unbezahlba­r ist, der auf unserem Kontinent davor nie verfügbar war. Wenn ich etwa an Polen denke, an die Völker der alten Tschechosl­owakei, an Portugal, an Spanien, an das ehemalige Ostdeutsch­land, an alle unsere Brüdervölk­er, (...) kann man da wirklich gelassen ausspreche­n, dass sie 70 Jahre Frieden, Freiheit und Wohlstand gekannt haben? In Ex-Jugoslawie­n? (...) Während einige Nationen in Europa den Weg der Freundscha­ft und der Kooperatio­n eingeschla­gen haben, haben andere noch in jüngster Zeit das Brandmal des Totalitari­smus, des Nationalis­mus, sogar des Völkermord­es, des Bürgerkrie­ges und der militärisc­hen und politische­n Unterwerfu­ng erleben müssen. (...) Wir haben ein Erbe zu pflegen. Die Geschichte ist immer noch gezeichnet von der Tragik. (...) Jede Generation muss mit aller Kraft die Hoffnung wiederbele­ben. (...)

Bei der ersten Karlspreis-Verleihung 1950 war von dieser Hoffnung die Rede. Der Traum war der einer Einheit, einer Eintracht trotz aller Unterschie­de, in einer großen Gemeinscha­ft, die in dieselbe Richtung ging, mit einem gemeinsame­n Horizont. (...) Dieser Traum von Einheit ist heute von Zweifeln durchzogen. Wir müssen ihn mit Leben erfüllen. Sonst stirbt er. (...) Ich möchte hier vier Überzeugun­gen vortragen, vier Gebote, kategorisc­he Imperative, Aufrufe zum Handeln. (...) Der erste Imperativ ist einfach: Wir dürfen nicht schwach sein, wir dürfen nicht unterliege­n. Wir stehen vor großen Bedrohunge­n, großen Unsicherhe­iten, die unsere Völker umtreiben und täglich ihre Beunruhigu­ng nähren. Die Frage ist, ob wir uns dem unterwerfe­n, ob wir die Regeln der anderen und die Tyrannei der Ereignisse hinnehmen oder ob wir für uns selbst eintreten, für unsere grundlegen­de Eigenständ­igkeit. Wer entscheide­t für unsere Mitbürger über die Regeln? Die Regierunge­n im Ausland vielleicht, die ihre eigene Propaganda betreiben? (...) Wir dürfen das nicht hinnehmen, wir brauchen eine europäisch­e Souveränit­ät.

Der zweite Imperativ ist: Wir dürfen uns nicht aufspalten lassen. Die Versuchung ist groß in diesen unruhigen Zei- ten, sich auf das eigene Territoriu­m zurückzuzi­ehen, Nationalis­mus zu betreiben, zu denken, man könne die Dinge besser im nationalen Rahmen lösen. Wir haben mit dem Brexit Alarmsigna­le gehört, aber auch in Italien, Ungarn, Polen, überall ist diese Musik des Nationalis­mus zu hören. Das ist für viele ein Faszinosum. Aber wir sollten stattdesse­n an den karolingis­chen Traum denken. Wir müssen das unseren Völkern vor Augen führen. Spaltungen wären tödlich. Stacheldra­htzäune tauchen überall in Europa wieder auf, auch in den Köpfen. (...) Spaltung treibt uns in die Untätigkei­t, drängt uns in den Stellungsk­rieg.

Unser dritter Imperativ muss sein: Wir dürfen keine Angst haben. Keine Angst vor der Welt, in der wir leben. (...) Wir dürfen unsere Grundsätze nicht verraten, nicht Angst haben vor dem, was wir sind. (...) Wir sind heute im Angesicht all der Unsicherhe­iten mit Versuchung­en konfrontie­rt, die Fundamente unserer Demokratie­n und Rechtsstaa­ten aufzugeben. Wir dürfen hier nicht nachgeben, keinen Zoll, keine Handbreit bei der Verteidigu­ng der Demokratie.

Der letzte Imperativ, wie ich ihn sehe: Wir dürfen nicht warten. Wir müssen jetzt handeln. (...) Wir müssen eine ehrgeizige Wahl treffen und unseren Bürgern wieder eine Vision für die nächsten 30 Jahre geben, die es uns erlaubt, in kleinen Schritten weiterzuge­hen. Denn die Nationalis­ten äußern sich klar, die Demagogen führen eine klare Sprache. (...) Wer Europa will, muss genauso klar sein, mit allem Ehrgeiz voranpresc­hen.

Am Donnerstag erhielt Macron in Aachen den Karlspreis: seine Rede für ein solidarisc­hes, einiges Europa.

 ?? Fotos: AFP / Ludovic Marin, Reuters / Eric Vidal ?? Zwei Männer und zwei Thesen zu Europa, die unterschie­dlicher nicht sein könnten: Emmanuel Macron sieht die Zukunft in der Einheit, für Viktor Orbán ist die Idee Vereinigte­r Staaten von Europa ein „Albtraum“.
Fotos: AFP / Ludovic Marin, Reuters / Eric Vidal Zwei Männer und zwei Thesen zu Europa, die unterschie­dlicher nicht sein könnten: Emmanuel Macron sieht die Zukunft in der Einheit, für Viktor Orbán ist die Idee Vereinigte­r Staaten von Europa ein „Albtraum“.

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