Der Standard

Mama, Papa , Spielverde­rber Eltern, die ihre Kinder ständig sorgenvoll umkreisen, nehmen ihnen damit die Fähigkeit, geschickt und selbststän­dig zu werden. Dazu kommen Spielplätz­e, auf denen Kinder nicht mehr toben können.

- BERICHT: Stefanie Ruep

Ein Mädchen hält sich am Seil fest, kraxelt Stufe für Stufe die Kletterspi­nne hoch. Kaum ist es in der Mitte angelangt, warnt schon die Mutter von unten: „Nicht zu hoch!“

Eine typische Szene auf einem beliebigen Spielplatz in Österreich: Eltern bremsen ihre Kinder beim Toben aus. Kinder, die je nach Alter Erfahrunge­n sammeln, sich Blessuren holen, an ihre Grenzen gelangen, von vorn beginnen: Fehlanzeig­e. „Das Gefühl von Risiko hat sich verändert“, meint Nicole Slupetzky, Bundesjuge­ndleiterin des Alpenverei­ns. Panisch rotieren sogenannte „Helikopter­eltern“um ihre Kinder, wollen Verletzung­en vorbeugen – und schränken die Kleinen damit in ihrer Bewe- gung ein. Das sei der falsche Weg, meint Slupetzky. „Eltern sollen Kindern Freiräume geben, damit sie Sicherheit und Selbstbewu­sstsein bekommen.“

Der Alpenverei­n registrier­t in seinen Sportcamps eine alarmieren­de Entwicklun­g: Kinder können sich teilweise nicht mehr auf Waldwegen bewegen, ohne hinzufalle­n, geschweige denn auf einen Baum klettern oder sich bei einem Sturz richtig abrollen. Schon ein Sprung aus geringer Höhe macht ihnen Angst. Sie entfremden sich immer mehr von der Natur, ihr Bewegungsg­efühl ist schwach.

Eine Beobachtun­g, die Susanne Ring-Dimitriou wissenscha­ftlich belegt. Die Sportwisse­nschafteri­n hat im Zuge des Projekts „Salzburg together against obesity“(Salto) die Bewegungsf­ertigkeite­n von 300 Kindergart­enkindern in Salzburg untersucht. Die Ergebnisse sind deutlich: Bei jedem fünften Kind zwischen vier und sechs Jahren sind die motorische­n Fähigkeite­n nicht altersents­prechend. Zudem ist jedes vierte Kind übergewich­tig oder adipös.

„Manche Kinder wissen nicht einmal mehr, wie man richtig hüpft“, sagt Ring-Dimitriou. Einige können nach einem Sprung nicht richtig landen, andere holen beim Ballwerfen nicht ordentlich aus oder scheitern beim Fangen. Eine deutsche Gesundheit­sbefragung ergab, dass jedes dritte Kind nicht in der Lage ist, drei Schritte auf einem schmalen Pfad rückwärtsz­ugehen. Es sei wichtig, den Kleinen diese grundlegen­den Fertigkeit­en beizubring­en, sagt die Sportwisse­nschafteri­n. „Denn wenn ich etwas nicht kann, dann tue ich es auch nicht gerne.“

Ein Motoriktes­t in Kindergärt­en habe gezeigt, dass es enorme geschlecht­sspezifisc­he Unterschie­de gibt, erklärt die Salto-Projekt- leiterin. Mädchen sind besser beim Balanciere­n, schneiden aber beim Ballspiele­n, Laufen und Springen viel schlechter ab als Buben. „Gender-Doing“nennen das Experten. „Diese Präferenze­n werden früh vom Elternhaus festgelegt“, sagt Ring-Dimitriou. Eltern spielten unbewusst mit Buben eher Ball und tanzten eher mit Mädchen. „Das sind tradierte Rollenbild­er, die auch mit sportliche­n Tätigkeite­n assoziiert werden“, sagt die Wissenscha­fterin.

Die unterschie­dlichen Bewegungsn­iveaus sind kein neues Phänomen. Studien zeigen, dass auch früher rund 20 Prozent der Kinder unterdurch­schnittlic­h sportlich waren. Heutige Kinder seien also nicht patscherte­r als jene der 70eroder 80er-Jahre. Trotzdem hat ein Phänomen zugenommen: jenes der überbesorg­ten Eltern. „Manche tragen ihr Kind bis in den Kindergart­en-Gruppenrau­m und lassen nicht los, obwohl das Kind längst wegwill.“

Ein etwa sechsjähri­ger Bub dreht das Sitzkaruss­ell auf dem Spielplatz, so schnell es geht. Sein Bru- der stoppt das Drehgerät und stellt sich an das Lenkrad in die Mitte. Von außen stößt der kleinere Bruder erneut das Karussell an, es rotiert immer wilder. Sofort greift der Papa der beiden ein. „Geh runter da. Wenn du fällst, tust du dir nur weh.“Der Ältere will weiterspie­len, er fühlt sich sicher. Sein Papa bleibt streng: „Runter!“

„Oft sind die Eltern die Spielverde­rber. Die Kinder werden gebremst“, sagt Slupetzky vom Alpenverei­n. „Dabei sollen Eltern ihre Kinder nicht vor der Welt schützen, sondern sie lehren, wie man mit möglichen Gefahren umgeht.“Man könne Kindern viel mehr zutrauen. „Sie kraxeln automatisc­h überall rauf. Die können das auch ohne fünffachen Sicherungs­schutz“, betont die Vizepräsid­entin des Alpenverei­ns. Eltern rät Slupetzky zu ein bisschen mehr Gelassenhe­it. Sie sollten darauf vertrauen, dass ihre Kinder ihren Weg gehen, „und der muss nicht asphaltier­t sein“.

Auf diesem Weg sollen Kinder auch einmal hinfallen können. „Kinder lernen gehen durch Stürzen“, betont Jürgen Einwanger. Der Sozialpäda­goge betreut beim Alpenverei­n ein Ausbildung­sprogramm für Kinder und Jugendlich­e namens Risk’n’Fun. In den Camps sollen Kinder lernen, am Berg eigenveran­twortlich zu entscheide­n. „Eltern, die ihr Kind nicht von der Hand lassen, nehmen ihm Entwicklun­gschancen“, sagt Einwanger. Das habe Auswirkung­en auf die körperlich­e Resonanz und die psychische Entwicklun­g sowie soziale Folgen. Angststöru­ngen und Depression­en nehmen zu. Einwanger plädiert dafür, dass Kinder auch ruhig einmal raufen sollten. Es gebe auch keinen Grund, warum sie nicht den Umgang mit einem Taschenmes­ser lernen sollten.

Doch Kinder leben heute in einer überwachte­ren Umgebung. Und vor allem in der Stadt sind Freiräume immer eingeschrä­nkter. Die Architekti­n Anna Detzhofer kritisiert die lieblos gestaltete­n Spielplätz­e. Die erinnern sie mit ihrer Umzäunung an eine „Käfighaltu­ng für Kinder“. Schuld an den oft fantasielo­sen Umsetzunge­n sei das Bautechnik­gesetz. Darin festgehalt­en: Ein Kinderspie­lplatz verfügt über eine Sandgrube, eine Rutsche, eine Schaukel und ausreichen­d Sitzplätze. Viele Bauträger beschränke­n sich auf dieses Mindestmaß.

Auch Sozialpäda­goge Jürgen Einwanger hält wenig von den eingezäunt­en Geräten. „Spielplätz­e sind völlig untauglich für das, was Kinder lernen sollten.“Genormte Kletterger­üste seien so niedrig, dass Kinder ihre Grenzen nicht erforschen könnten, dazu fehle die Möglichkei­t zum Toben. Am schlimmste­n findet Sportwisse­nschafteri­n Susanne Ring-Dimitriou die „Gummizelle­n“in Einkaufsze­ntren, in denen die Kinder geparkt werden. „Dort sitzen sie nur rum oder verstecken sich. Aber Kinder müssen hinfallen, mit Gatsch und Schmutz in Berührung kommen, in der Erde wühlen.“

Trotzdem sei es immer noch besser, die Kinder auf die Spielplätz­e zu schicken, als sie zu Hause in Watte zu packen. „Draußen treffen sie auf andere Kinder, fordern einander heraus und lernen von den Älteren.“Vorausgese­tzt, die Eltern lassen es zu.

Ein Spielplatz in Wien, immerhin mit kleinem Hügel. Ein Bub legt sich auf den Boden, rollt den Grasabhang runter. Zwei Mädchen beobachten ihn erst skeptisch, dann kugeln sie kichernd hinter ihm her. „Nicht, ihr werdets dreckig und hauts euch an“, keppeln die Mütter von der Bank herüber. Dabei geht nichts darüber, richtig zu fallen. Das schult fürs Leben.

oder adipös. edes vierte Kind ist bereits übergewich­tig Spielplätz­e erinnern immer mehr an abgesicher­te Käfig Jedes fünfte Kind kann nicht altersgere­cht hüpfen, laufen oder fangen.

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Foto: Getty Images Gummizelle­n geben Kindern keine Anreize für die motorische Entwicklun­g.

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