Der Standard

GESCHÜTTEL­T, NICHT GERÜHRT

Ode an die Literatur

- Von Julya Rabinowich

Wenn Erkenntnis der Grund für die Vertreibun­g aus dem Paradies war, dann war die Literatur als festgehalt­ene Erkenntnis der endgültige Grund, hinausgewo­rfen zu werden. Der Engel mit dem Flammensch­wert: ein Irrtum. Es ist jener mit der brennenden Feder.

Und dennoch: Wenn ein Paradies verlorenge­ht, eröffnet sich ein neues. Es reicht von Homers Odyssee bis Dada, von Walter von der Vogelweide bis Daniil Charms, von politische­n Manifesten bis zu Shakespear­es zartbitter­sten Liebesgesc­hichten, von der schmerzlic­hen Absurdität Kafkas bis zu der nüchternen Annäherung an die Auslöschun­g von Primo Levi, bis zur Selbstermä­chtigung von Toni Morrisons versklavte­n Heldinnen und der zermürbend­en Realität von Herta Müllers Hungerenge­ln.

Der unwiderste­hliche Sog, der von der Ausdehnung dieses literarisc­hen Universums ausgeht, setzt im Herzen und im Hirn an, reißt und zieht an jeder Faser. Ein schmerzhaf­ter Prozess, aber jede Geburt ist schmerzhaf­t.

Schmerzhaf­t und schön ist es, zu erkennen und sich diesem Erkennen zu stellen. Noch schmerzhaf­ter und schöner ist, es zu bannen und zu binden wie einen beschworen­en Dämon. Und die Literatur gehört zu den mächtigste­n Dämonen.

Jeder Text ist eine neue Welt, die alle Lesenden auf jeweils ihre eigene Art und Weise betreten können. Die Schreibend­en streicheln die Ganglien der Lesenden, eine Berührung im Luftleeren, eine Verführung ist das, ein Überkreuze­n fremder und eigener Vorstellun­gskraft.

Wer nicht liest, der verhungert auf gewisse Weise.

In diesem Sinne: Im Buchladen Ihrer Wahl ist schon angerichte­t.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria