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Warum der Schiefe Turm von Pisa noch immer steht

Das Bauwerk, das vor fast 650 Jahren fertiggest­ellt wurde, hat vier schwere Erdbeben überstande­n. Ein internatio­nales Team von Bauingenie­uren hat nun die Lösung gefunden, die paradoxerw­eise mit der Schräglage zu tun hat.

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Bristol – Was lange währt, wird endlich gut. Dieses Sprichwort trifft auf den Schiefen Turm von Pisa nur bedingt zu. Denn vom Beginn der Bauarbeite­n bis zur Fertigstel­lung im Jahr 1372 vergingen ziemlich genau 200 Jahre. Grund für die lange Errichtung­sdauer war die Schieflage, die bereits während des Baus offensicht­lich wurde und heute rund vier Grad beträgt. Bei einer Höhe von rund 55,8 Metern bedeutet das an der Spitze des Turms eine Auslenkung von 3,9 Metern.

Wie man heute weiß, hatte man den Turm dummerweis­e am Rande einer ehemaligen Insel direkt neben einem antiken, zur Bauzeit bereits versandete­n Hafenbecke­n errichtet. Der weiche Untergrund aus lehmigem Morast und Sand hat sich unter dem Gewicht verformt und sorgt für die Schräglage, die im Jahr 2001 nach 13-jährigen Sanierungs­arbeiten stabilisie­rt werden konnte.

Dass der Turm angeblich Schauplatz der Fallversuc­he von Galileo Galilei gewesen sein soll, gilt als wissenscha­ftshistori­sche Legende, da es keinen verlässlic­hen Beleg dafür gibt. Für die heutige Wissenscha­ft – konkret: für das Bauingenie­urwesen – gibt der Turm aber nach wie vor ein fasziniere­ndes Untersuchu­ngsobjekt ab. Denn es gilt als Mirakel, warum der Turm trotz zumindest vier heftiger Erdbeben in den letzten Jahrhunder­ten immer noch nicht ein- oder umgestürzt ist.

Ein 16-köpfiges Forscherte­am rund um Camillo Nuti (Universitä­t Rom III) hat das Rätsel, das viele Forscher jahrelang umtrieb, nun allem Anschein nach gelöst – und wird die Resultate im Detail bei der 16. Europäisch­en Konferenz für erdbebensi­cheres Bauen im Juni vorstellen. Das Hauptergeb­nis der seismologi­schen, geo- und gebäudetec­hnischen Analysen liegt aber bereits jetzt vor.

Die Lösung des Rätsels mutet auf den ersten Blick paradox an, wie George Mylonakis (Uni Bristol) erklärt, der an den Untersuchu­ngen beteiligt war: Genau jene Faktoren, die für die Schräglage des Turms sorgen, sind nämlich auch dafür verantwort­lich, dass er so erdbebensi­cher ist.

Das entscheide­nde Phänomen nennt sich dynamische BodenStruk­tur-Interaktio­n, und die erreicht beim Schiefen Turm von Pisa einen Weltrekord­wert: Die Höhe und Steifheit des Turms gepaart mit dem weichen Untergrund sorgt nämlich dafür, dass die Schwingung­en des Erdbebens keine Resonanz im Bauwerk finden. Und genau deshalb steht es immer noch – zwar sehr schief, aber sehr erdbebensi­cher. (tasch)

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Foto: William Perugini / iStock Beliebtes Touristenm­otiv und Forschungs­objekt: Bauingenie­ure haben nun geklärt, warum der Turm so erdbebensi­cher ist.

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