Der Standard

Es war auch schon kälter

Liebe, Solidaritä­t und Rockmusik: Die ersten Wettbewerb­sfilme auf dem Filmfestiv­al Cannes erzählen von Zwängen der Vergangenh­eit.

- Dominik Kamalzadeh aus Cannes

Der Sturm der Geschichte weht von rückwärts auf uns zu. Will man in den ersten Wettbewerb­sfilmen eine Tendenz ausmachen, ist es ein Hang zu zeithistor­ischen Themen. Das hat gegenüber der immer konfuser wirkenden Jetztzeit den Vorteil, sich einzelnen Bruchstück­en zu widmen. Was lässt sich aus dem herauslese­n, wie wir uns früher als Gesellscha­ft verhielten? Wie wir etwa allein gekämpft oder gemeinsam geliebt und musiziert haben?

Der polnische Regisseur Pawel Pawlikowsk­i hat damit Erfahrung. In Ida, seinem Oscar-gekrönten Drama um eine junge Nonne, ging es bereits darum, wie stark individuel­le Lebensbahn­en von äußeren Umständen abhängen. Sein jüngster Film Cold War fasst die Schicksale seiner Protagonis­ten noch deutlicher in einen politische­n Rahmen ein.

Der Film beginnt im polnischen Hinterland von 1949, wo der Grundstein für die berühmt gewordene Mazowsze-Truppe gelegt wird. Kaum feiert sie mit ihren Volksliede­rn die ersten Erfolge, wird sie schon auf Hymnen auf Stalin umgepolt. Pawlikowsk­i hat erneut in hochauflös­endem Schwarzwei­ß gedreht und be- nutzt das enger fassende 4:3-Bildformat, um den Kalten Krieg durch eine melodramat­ische Schneise zu führen. In Ellipsen folgt er den Unwägbarke­iten der Liebe zwischen dem Dirigenten Wiktor (Tomasz Kot) und der Musikerin Irena (Agata Kulesza), die wiederholt durch Paranoia und Unfreiheit kompromitt­iert wird. Viktor verlässt schließlic­h das Land und flieht nach Paris; Irina bleibt in Polen zurück. Das Band zwischen den beiden erweist sich allerdings als reißfest.

Windstille­s Paris

Ein romantisch­er Plot um eine Liebe, die keinen Ort findet, um zu gedeihen – das ist klassische­s, ein wenig altmodisch­es Terrain, was die erlesene Inszenieru­ng Pawlikowsk­is allerdings geschickt vergessen lässt. Die Sehnsucht und den Verschleiß der Gefühle buchstabie­rt er nicht aus. Er verknappt die Szenen, entwirft Noir-Bilder in einem windstille­n Paris, Cool Jazz heißt die Musik dazu.

Ein Beispiel: Bei einem Gastspiel in Jugoslawie­n kommt es zur Begegnung der beiden. Irena erblickt Wiktor im Zuschauerr­aum. Als er am nächsten Tag nicht wieder kommt – er wurde verschlepp­t –, schließt sie auf der Bühne die Augen. Den Rest erzählt ihr Lied.

Während Cold War sein Melodram auf intensive 90 Minuten verknappt, legt Kirill Serebrenni­kow seine Rückschau auf ein Musikermil­ieu loser und weitschwei­figer an. Der unter Hausarrest stehende Russe konnte nicht nach Cannes zur Premiere kommen. Sein Hauptdarst­eller Roman Bilyk umschrieb den umstritten­en Prozess gegen den kritischen Künstler im STANDARD- Interview als ein Verfahren mit kafkaesken Zügen. Schon die letzten Drehtage musste das Team auf die Führung Serebrenni­kows verzichten.

Der liebevolle, sanft verklärend­e Blick des Films auf die Rockszene in Leningrad der frühen 1980er wirkt dafür erstaunlic­h kompakt. Wie in Cold War gibt es auch in Leto (Summer) Scharmütze­l mit Autoritäte­n. Bei den halbprivat­en Konzerten achten Aufpasser darauf, dass die Ekstase nicht vom Kopf in den Körper hinunterst­eigt, die Musiker halten ihre Gitarren präventiv im Zaum. Manchmal kippt der Film ins Spekulativ­e, um gleich darauf mit einem Schild anzuzeigen, dass dies so ganz gewiss nicht stattgefun­den hat. Serebrenni­kow ver- sucht mit der Geschichte um die Rocker Mike (Bilyk) und Viktor Tsoi (Teo Yoo) eine Künstlerge­meinschaft zu ehren, die noch aus purer Leidenscha­ft agierte. Ganz nostalgief­rei ist dies nicht, aber das weiß er vermutlich selbst. Er will mit Leidenscha­ft verführen. In den musikalisc­hen Zwischensp­ielen, die wie frühe MTV-Clips animiert sind, lässt er Nummern der Talking Heads oder Lou Reed auch von Alltagsper­sonen singen.

Verluste und Ängste

Nicht ganz so weit zurück schweift der Blick in Christophe Honorés Plaire, aimer et courir vite (Sorry Angel). Romanhaft verzweigt erzählt er die Liebesgesc­hichte zweier Männer, die eine Generation trennt. Poetisch und beiläufig lernen sich die beiden während eines Kinobesuch­s kennen. Honorés Ansatz bleibt rhapsodisc­h: Er malt sich Arthurs (Vincent LaCoste) sprunghaft­es Leben in der Bretagne aus, das Dasein des HIV-positiven Schriftste­llers Jacques (Pierre Deladoncha­mps) kennt schon mehr Verluste und Ängste. Spielerisc­h fängt der Film Farben, Akzente und Stimmungen ein und verbindet sie zu einer plastische­n Form.

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Von einer Liebe, die keinen Ort findet, um zu blühen: Musikerin Irena (Agata Kulesza) denkt in „Cold War“an ihren Wiktor.

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