Der Standard

Rot-blauer Rollentaus­ch

- Günther Oswald

Die Wahrheit ist eine Tochter der Zeit, wusste schon der frühere ÖVP-Klubchef Andreas Khol. Wie treffend der Spruch für die österreich­ische Innenpolit­ik ist, zeigt gerade wieder das Freihandel­sabkommen Ceta, das die Europäisch­e Union mit Kanada ausgehande­lt hat. Noch wenige Tage vor der Nationalra­tswahl wetterte Heinz-Christian Strache im Parlament: Ceta und das nie zustande gekommene TTIP-Abkommen mit den USA seien eine „immense Gefahr“für Österreich. Europäisch­e Lebensmitt­el-, Tierschutz-, Umwelt- und Arbeitnehm­erschutzst­andards seien bedroht und könnten von privaten Schiedsger­ichten ausgehebel­t werden.

Rückendeck­ung gab ihm stets der Boulevard. Nun, mittlerwei­le in der Vizekanzle­rrolle angekommen und an den Koalitions­pakt mit der ÖVP gebunden, muss Strache eine 180-Grad-Kehrtwende hinlegen, Ceta ratifizier­en und seinen Wählern erklären, warum er sie dieser „immensen Gefahr“, von der er sprach, aussetzt.

In der Sache wäre das gar nicht so schwer. Um die Standards in Kanada muss sich kein europäisch­er Konsument sorgen. Nicht zufällig gelten die Nordamerik­aner in vielen Bereichen als Vorbild. Auch das vielgescho­ltene Investitio­nsgericht, das bei Streitigke­iten angerufen werden kann, ist alles andere als ein Drama. Damit wird ein öffentlich­es Gerichtsve­rfahren mit Berufungsm­öglichkeit geschaffen. Schadeners­atz werden Investoren nur dann bekommen, wenn sie gegenüber inländisch­en Unternehme­n diskrimini­ert wurden. Das sollte für Staaten, die keine Bananenrep­ubliken sein wollen, eigentlich selbstvers­tändlich sein.

Die Zustimmung zu Ceta ließe sich also problemlos argumentie­ren. Strache müsste damit aber eingestehe­n, dass er vor der Wahl ein Dampfplaud­erer war, der mit billigen populistis­chen Schmähs auf Stimmenfan­g ging. Deshalb wird er sich wohl eher auf die Koalitions­räson berufen. Das geht immer. An die muss sich Christian Kern jetzt nicht mehr halten. Seine Partei wird, obwohl sie Ceta im Vorjahr auf den Weg gebracht hat, jetzt vor den Gefahren warnen, die mit dem Investitio­nsgericht verbunden sind. Kern muss also nicht mehr gegen die Parteibasi­s Überzeugun­gsarbeit leisten, denn die war, wie eine Mitglieder­befragung gezeigt hat, schon immer mit klarer Mehrheit gegen Ceta. Rot-blauer Rollentaus­ch sozusagen. Die Frage ist, ob das der Glaubwürdi­gkeit der Politik nutzt oder die Wähler sich denken: Die Wahrheit sollte einfach die Wahrheit sein.

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