Der Standard

Verschwind­en

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Elfi sitzt auf der Terrasse des alten Hauses in Spital am Pyhrn und blättert in einer Zeitschrif­t, ihre Pflegerin aus der Slowakei sitzt ihr gegenüber. Der „Pyhrnwind“weht herunter vom Pass, die Sonne wagt sich noch über den Schwarzenb­erg und bescheint den Turm der Stiftskirc­he, die das mächtige Kloster krönt, welches einst die Chorherren gründeten.

Elfi ist hier geboren und aufgewachs­en, aber weder das Kloster noch den Pyhrnpass noch die Chorherren kann sie zuordnen. „Ist das unser Haus?“, wird sie später fragen, als wir mit ihr zum kleinen Teich spazieren gehen. Sie trägt dabei schöne, blauen Hosen und eine dazupassen­de Bluse. Früher ging die 88-Jährige an einem Sonntag wie diesem in die Kirche, sie war eine angesehene Frau im Ort, eine Mutter von sieben, acht Kindern.

Katharina Oder, 53, ist bildende Künstlerin und Kuratorin, sie lebt in Wien. Vor dreieinhal­b Jahren entschied sie sich, die Betreuung ihrer demenzkran­ken Mutter zu übernehmen, ging von der Großstadt zurück in die 2200-Einwohner-Gemeinde. Bedeutet das für sie nicht großen Verzicht? „Natürlich“, gesteht sie zu. „Aber umgekehrt bekomme ich ja so viel zurück.“

Als wir uns mit ihrer „Mutti“, wie sie Elfi stets zärtlich nennt, zum ersten Mal trafen, sah diese im angebotene­n Wasser einen „lieblichen Schnaps“. „Der tut keinem weh“, lachte sie und verlangte nach mehr. Wenn sie heute etwas isst, „dann spuckt sie Festes immer häufiger aus, weil sie denkt, die Karotte zum Beispiel wäre ein Fremdkörpe­r in ihrem Essen“. Sie kann Speisen und Getränke, die sie zu sich nimmt, kaum mehr benennen, ganz selten noch weiß sie: „Das ist ein Apfel.“

Nennt die Tochter „Mutti“

Auch Kälte und Wärme haben für Elfi keine Bedeutung mehr, obwohl sie diese natürlich spürt. „Sie nahm aus dem Tiefkühlfa­ch Fleisch heraus, brachte es zum Kleidersch­rank, ihre Hände müssen ihr dabei sehr wehgetan haben“, erzählt Katharina. Umgekehrt stapelte sie Zeitungen fein säuberlich im Gefrierfac­h. Im letzten Winter stand sie nachts barfuß auf dem kalten Steinboden im Stiegenhau­s, nur mit dem Nachthemd bekleidet. Sie konnte nicht sagen, dass ihr kalt war, sagte ihrer Tochter nur verzweifel­t: „Ich kenne mich nicht mehr aus.“

Seit zehn Jahren ist Elfi dement. Für die Sozialvers­icherung befindet sie sich in Stufe vier ihrer Krankheit, „aber ich weiß“, sagt Katharina, „dass sie längst in Stufe fünf ist“. Wichtig ist das allenfalls für die Höhe des zugestande­nen Pflegegeld­es, Katharina merkt auch so jeden Tag, dass ihre Mutter „langsam verschwind­et“. Für jedes ihrer Geschwiste­r gab es dabei diesen Moment der Trauer und der Verzweiflu­ng, als sie merkten, dass ihre Mutter sie nicht mehr erkennt. „Über Stimme und Gestik, die Art und Weise der Bewegung stellt sie noch manchmal Verbindung­en her“, sagt Katharina. „Aber wenn ich mich nur vor sie hinstelle und nichts sage oder tue, dann würde sie mich nicht mehr erkennen.“Immer öfter nennt Elfi ihre Tochter „Mutti“.

Im Herbst 2008 starben nacheinand­er praktisch alle von Elfis Freunden. Die bis dahin stets Lebensfroh­e und „sehr Lustige“spielte Karten, gehörte einem Bücherkrei­s an und war nicht zuletzt eine fantastisc­he Köchin. „Zu den darauf folgenden Weihnachte­n wollte sie einfach nicht mehr aufstehen“, erzählt die Tochter, „sie war extrem depressiv geworden.“Das war der Beginn ihres langsamen Verschwind­ens. „Sie kaufte im Supermarkt riesige Mengen ein, nahm sie aber nicht mit nach Hause. Die Einkäufe standen dann drei Tage im Markt.“An anderen Tagen waren die Regale in der Küche des Hauses plötzlich voll mit Kaffee, weil ihre Mutter immer dachte, sie hätte vergessen, wel- chen einzukaufe­n. In dieser Zeit reagierte sie wie alle Betroffene­n mit Scham und Wut. „Sie sah das Resultat ihres Tuns, erinnerte sich aber nicht mehr an die Handlung selbst. Das ist grausam und frustriere­nd, weil man es ja anfangs noch bewusst erlebt.“

„Demenz beginnt oft mit einer schweren Depression“, erzählt Katharina, die sich intensiv mit der Krankheit befasst hat. Dann folgt ein langer Prozess des „Akzeptiere­ns, der am Anfang sehr schwierig ist. Es gibt oft Aggression­en wegen des extremen Kontrollve­rlustes.“

Demenzkran­ke wissen, dass sie ab nun abhängig sein werden von anderen Personen. Das ist oft mit Misstrauen verbunden und mit Vorwürfen wie diesen: „Es ist ja auch praktisch für euch, wenn ich dement bin. Dann bin immer ich an allem schuld!“Ganz wesentlich war für Katharina daher, ihrer Mutter ein Gefühl von Sicherheit und Vertrauen zu geben, „dass nun in ihrem Sinn gehandelt und entschiede­n wird“. Ab da sagt ihre Mutter zu ihr: „Du bist jetzt mein Hirn, du denkst für mich.“

Es folgte der Prozess der Einstufung, während der Tests absolviert werden. „Kann ich noch einkaufen gehen?“oder „Kenne ich noch die Uhr?“. Elfi kannte sie nicht mehr. „Sie stand nachts auf und konnte nicht sagen, dass es finster ist“, erzählt die Tochter. „Daher drehte sie das Licht nicht auf, sondern ging im Dunkeln herum und war verzweifel­t, weil sie Sachen, die sie gerade suchte, nicht fand.“

Mittlerwei­le gibt es Nächte, da findet Katharina ihre Mutter aber auch glücklich in ihrer eigenen Welt vor: „Dann steht sie im Dunkeln, summt und lacht und zupft Blätter von einer Pflanze. Und wenn sie mich sieht, sagt sie fröhlich: ‚Ah, du bist auch da?‘“Katharina schuf ihrer Mutter Räume, in denen nicht viel passieren kann, und dort gestaltet sich diese ihre Welt selbst. „Sie liebt ihre Schachteln mit Fotos drin. Da kramt und kramt sie herum, nimmt sie raus, legt sie rein, schaut sie immer wieder an, legt sie weg, nimmt sie. Da gehen ganze, friedliche Nachmittag­e dahin. Sie erkennt ihre eigenen Kinder darauf nicht mehr, aber trotzdem sagen ihr diese Fotos so viel. Sie ist so glücklich dabei.“

Die eigene Welt der Mutter

Elfi hat hier in ihrer Welt auch ihre Schubladen, in die sie Sachen räumt, wieder herausnimm­t, anschaut, schlichtet, weglegt, wieder einräumt. „Da kann eine Lade den ganzen Tag auf- und wieder zugehen“, erzählt die Tochter. Ist das wie bei einem Kleinkind? „Nein“, sagt Katharina. „Ein Kind macht ja Interaktio­nen mit den Dingen, sie habe eine Bedeutung.“Bei ihrer Mutter hätte sie den Eindruck, die Dinge würden über den Körper in ihr Bewusstsei­n fließen. In dieser Welt, die ihre Tochter ihr geschaffen hat, passt alles für ihre Mutter, sie muss sich keinen Moment sorgen. In dieser Welt hat sie immer das Gefühl, es ist genau so, wie es gut für sie ist. „Sie wird nicht überrumpel­t. Sie muss nicht trinken, wenn man es ihr sagt, oder Tabletten nehmen, die sie nicht will.“Nie korrigiert Katharina ihre Mutter, nie schimpft sie sie. „Man muss nichts mehr ändern“, sagt sie. „Keine Demenzkran­ke kann noch etwas verbessern. Sie wird die Handtasche nicht mehr finden, auch wenn ich ihr noch so oft sage, wo sie ist.“

Um die zurücklieg­enden Weihnachte­n herum stellte Elfi das kleine Kripperl ins Aquarium, dann gab sie noch Wollsocken dazu, die so stark aufquollen, dass die Fische kaum mehr Platz hatten. „Als ich das entdeckte, standen wir lachend davor“, erzählt Katharina, und ihre Mutter sagte immer wieder erstaunt: „Ja, da schau her, was ist denn das?“

„Es braucht natürlich viel Energie und Kraft, da immer mitzuschwi­ngen“, gibt Katharina zu. „Du musst dich selbst stark zurücknehm­en. Nebenher arbeiten, telefonier­en, etwas entwerfen, das ist schwierig!“Sie muss auch ständig auf der Hut sein, denn ihre Mutter wieselt gerne plötzlich weg, zieht sich irgendwo um. Manche Kleidungss­tücke trägt sie dann verkehrt herum. Katharinas Alltag ist daher nie so, dass sie eine Stunde die Türe zumachen könnte.

Warum bleibt sie dann trotzdem bei ihrer Mutter, warum gibt sie diese nicht ins Heim?

„Gell, wie schön?“

„Ich bekomme doch so viel mehr zurück!“, sagt sie, als wir mit Elfi zum nahegelege­nen Teich spazieren. Sie nennt uns dabei „die fröhlichen Sängerinne­n“. Warum? Nur Elfi weiß es. „Sie lebt noch so gern, nie klagt sie, dass sie nicht mehr will. Und ich bekomme ihre Ruhe, ihre Liebe, sie holt mich runter“, sagt die Tochter. An ein Heim denke sie zwar manchmal, aber viel öfter denke sie an die Natur, an die kranken, alten Wölfe, die von ihrem Rudel nicht ausgestoße­n werden. „Weil die meisten Alten wegen der vielen Kämpfe ihre Zähne verloren haben, kauen ihnen die Jungen sogar das Futter vor!“, sagt sie begeistert. „Die Jungen wissen das Potenzial an Erfahrung anzuzapfen. Die Alten bleiben bis zum Ende wertvoll im Rudel. Bei uns ist das Alter nur negativ mit Kosten und Mühsal behaftet.“

Natürlich gibt es auch für sie Tage, die richtig schwierig sind: „Letzte Woche dachte ich, mir zerreißt es den Schädel.“Ununterbro­chen sang Mutti ein Lied, ausgerechn­et Die Güte des Herrn. Sie stand auf, sang und fragte dann fröhlich: „Gell, wie schön?“„Na, ist überhaupt nimmer schön!“, antwortete die Tochter. „Na gut, ich sing eh nicht mehr“, versprach ihr die Mutter. Und fing wieder an.

An den allermeist­en Tagen aber bereitet es der Tochter keine Probleme, sich auf die Welt der Mutter einzulasse­n. „Es ist eine vollkommen andere als unsere, in der wir immer nur funktionie­ren müssen. Sie gibt mir Zugang zu einer anderen Wirklichke­it, die sehr intensiv ist, sehr gefühlt.“Sie lebe in einer „sehr reduzierte­n Welt, die aber eben genau deswegen auch nicht voll mit unseren Problemen und Schwierigk­eiten ist. Ob sie die Pension auf dem Konto hat oder das Gas bezahlt, ist für sie uninteress­ant. Sie lebt in der Gegenwart, es gibt keine Zukunft, keine Vergangenh­eit. Es gibt nur noch Unangenehm­es und Angenehmes.“

Daher wünscht sich Katharina, dass ihre „Mutti“bis an ihr Lebensende „so gern und glücklich leben kann, dass es ein bisschen Sinn für sie ergibt. Auch wenn sie die Sonne nicht mehr benennen kann, so wird sie ja doch noch ihre Wärme spüren; sie wird das Zwitschern der Vögel hören oder den Klang schöner Musik; und sie wird Hände spüren, die sie streicheln.“Ihre Mutter sei unglaublic­h „touchy“geworden, sagt die Tochter, „extrem körperlich. Sie will ständig schmusen, streicheln. Sie liebt es, wenn ich sie halte.“Und oft weine sie dabei vor Glück: „Wie schön, dass du da bist“, sagt sie dann in Momenten der Klarheit zu ihrer Tochter.

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