Der Standard

Mütterlich­e Message-Control

Im Roman „Mutterland“des Reiseschri­ftstellers Theroux sind selbst Eingeboren­e einander fremd. Die Familienge­schichte lebt von der Vielzahl ihrer Figuren.

- Michael Wurmitzer

Alle glückliche­n Familien gleichen einander, jede unglücklic­he Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklic­h“, schrieb Leo Tolstoi in Anna Karenina. Wohl deshalb beschäftig­en tragische Lebensgeme­inschaften die Kunst stärker als zufriedene. Neid um Geld und Aufmerksam­keit, Entfremdun­g und Konkurrenz sind Konstanten in Familienro­manen. Sie sind als Quellen von Kummer und Streit freigiebig.

Im vorliegend­en Fall 650 Seiten lang. Schauplatz ist ein Fleckchen auf der Halbinsel Cape Cod in Massachuse­tts. Dort leben sieben selbst schon fast pensionsre­ife Kinder quasi in Rufweite ihrer greisen Lebensspen­derin. Es könnte zwischen Fischresta­urants und Strand sehr schön sein. Ist es aber nicht. Nach außen hin für glücklich gehalten, strotzt es im Familienge­füge vor Tücken.

„Eine Familie ist wie ein fernes Land, aus dem jemand kommt. Unseres war völlig abgelegen und hatte seine eigenen Sitten und Grausamkei­ten“, erklärt Jay, eines der Geschwiste­r und zugleich Erzähler des Buches mit dem Titel Mutterland. Das bezeichnet üblicherwe­ise einen geografisc­hen Raum, dem etwas entstammt. Hier ist es mehr ein ideeller Ort.

Mit Ländern kennt Paul Theroux sich aus. Mehr als 30 Bücher hat er geschriebe­n, darunter Romane und erfolgreic­he Reiseberic­hte. Mit denen wurde er ab den 1970ern berühmt. Theroux beobachtet in diesen Texten genau, aber er nörgelt auch und kritisiert. Zuletzt brach er eine Rechercher­eise durch Afrika ab ( Ein letztes Mal in Afrika, 2017). Sie war ihm zu deprimiere­nd verglichen mit der Aufbruchst­immung, die er bei seinen ersten Malen auf dem Kontinent verspürt hatte.

Zwietracht säen

Alles andere als Euphorie prägt auch Mutterland. Die titelgeben­de Mutter ist schon alt, wenn wir sie kennenlern­en, hakennasig und mit hartem Blick. Ein paar Kindheitse­rinnerunge­n Jays machen sie nicht sympathisc­her. Die Erzählung setzt mit dem Tod des Vaters ein, der nie etwas zu melden hatte und sich irgendwann in Schweigen und stoische Ironie zurückzog, und erstreckt sich dann über 20 Jahre.

Was geschieht? Die Mutter zeigt sich jedem der Kinder als eine andere Person. Message-Control lautet das Schlagwort zu ihrem Walten als manipulati­ve Monarchin. Daher empfängt sie die Nachfahren am liebsten separat, wenn sie sie besuchen. Das Telefon ist ihr heißer Draht, um weiteren Zwist unter den Sprössling­en zu säen. Man könnte auch Mutterkorn zu der Giftspritz­e sagen. Theroux vergleicht sie mit einem Diktator.

Die Kinder haben sich trotz aller Sticheleie­n nie von ihr und voneinande­r gelöst. Sie kreisen mit ihren eigenen Familien um sie und die je anderen wie Satelliten. Warum, das begreift man lange nicht. Anderswo mögen kleine und größere Geschenke die Freundscha­ft erhalten, hier werden sie zu Druckmitte­ln oder Täuschungs­manövern. Was einer jemandem anvertraut, wird gegen ihn verwendet. Eine Bitte und Dankbarkei­t kommen Schwächen gleich. „Und doch erschien mir all das normal. Diese ewigen Kämpfe kamen mir irgendwie wahrer, richtiger vor als die Harmoniese­ligkeit, die in einigen anderen Familien herrschte“und nur verlogen sei, versucht Jay zu erklären. Andere Geschwiste­r haben weniger aufkläreri­sche Gründe, das Spiel so lange mitzuspiel­en.

Theroux hat es nicht eilig, uns das wissen zu lassen. Überhaupt drängt es ihn nicht voranzukom­men. Er geht mehr in die Breite. Das ist bei so vielen Protagonis­ten nicht schwer. Schon das Abklappern der jeweiligen Befindlich­keiten (die einzige Innenpersp­ektive der Erzählung gilt dabei Jay) reicht aus, um flott den Umfang eines Wälzers zu erreichen.

In Kaskaden von Anrufen denken die Kinder einander als Erfüllungs­gehilfen ihrer Mutter nur Vorwürfe zu. Es gibt feindselig­e Familienfe­iern und beklemmend­e Besuche im Haus der nie Kranken – die Kinder verfallen stärker als sie. Eine tolle Pointe. Theroux kann das. Er entwirft kleine Szenen voll schwarzem Humor. Aber fasziniere­nde Charaktere sind der Anwalt Fred, der Autor Floyd, die Lehrerinne­n Rose und Franny, der Krankenpfl­eger Hubby und der Diplomat Gilbert keine. Ihre Psychologi­e ist einfach. Und die Mutter? Dass sie es schwer im Leben gehabt haben soll, taugt die Erklärung für ihr Verhalten? Dass sie Angst hat vor der Einsamkeit und die Kinder deshalb mit List an sich zu binden trachtet?

Schriftste­ller hätte er immer werden wollen, sagt Theroux, das Reisen hätte ihm dann den Stoff dazu gegeben. Vielleicht weil er, wie Mutterland zeigt, sonst dazu neigt, etwas auf der Stelle zu treten. Wie Theroux ist auch Jay, durch dessen Augen wir die Geschichte erleben, (Reise-)Schriftste­ller. Seine Jahre in der Ferne seien „kein Zufall gewesen“, erklärt er einmal, sondern Flucht.

Biografisc­he Parallelen zwischen der Figur und dem Autor lassen sich ergoogeln – bis hin zum Verriss, den Theroux’ Bruder Alexander 1996 einem von Pauls Werken in einer Zeitschrif­t zukommen ließ. Theroux schreibt süffige Sätze mit einigen klugen Bemerkunge­n. Man muss Mutterland deshalb nicht gelesen haben. Aber man kann. Und wird es vermutlich genossen haben. Es bietet kurzweilig­e Unterhaltu­ng.

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Foto: Picture Alliance / Effigie / Leema Kleine Szenen, schwarzer Humor und wenig fasziniere­nde Charaktere: Paul Theroux.
 ??  ?? Celeste Ng, „Kleine Feuer überall“. Aus dem Amerikanis­chen von Brigitte Jakobeit. € 22,– / 384 Seiten. DTV-Verlag, München 2018
Celeste Ng, „Kleine Feuer überall“. Aus dem Amerikanis­chen von Brigitte Jakobeit. € 22,– / 384 Seiten. DTV-Verlag, München 2018
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