Der Standard

Gaza und das Fenster zur Welt

Im Gazastreif­en wächst eine Generation heran, deren Welt von einem Grenzzaun bis zum Meeresstra­nd reicht. Zwei Millionen Menschen sitzen zwischen dem Amboss der Hamas und dem Hammer Israels fest.

- Gudrun Harrer

Wien hat circa 400 Quadratkil­ometer Fläche, der Gazastreif­en gut 360. Aktuelle Bevölkerun­gszahlen gibt es keine aus dem 41 Kilometer langen Streifen am Mittelmeer, der zwischen sechs und 12 Kilometer breit ist: Es werden gut zwei Millionen Menschen sein. Damit hören sich jedoch die Vergleiche auf; die anderen Kennzahlen sind wie von unterschie­dlichen Planeten.

Im Gazastreif­en liegt die Arbeitslos­igkeit bei 44 Prozent, bei Jugendlich­en unter 29 Jahren sogar bei 62. 80 Prozent der Menschen sind von humanitäre­r Hilfe abhängig, 60 von Lebensmitt­elunsicher­heit betroffen. Trinkwasse­r und Elektrizit­ät sowie stattdesse­n Diesel für Generatore­n sind Mangelware.

Und man kann nicht weg, auch nicht vorübergeh­end, etwa um im Westjordan­land zu studieren oder die Verwandtsc­haft zu besuchen. Passiersch­eine gibt es höchstens für Verwandte ersten Grades, zu Anlässen wie Begräbniss­en oder Hochzeiten. Da wächst eine Generation von Kindern heran, deren Welt vom Sicherheit­szaun bis zum Meer reicht. Auch für die Fischer ist nach sechs Seemeilen (ca. elf Kilometer) Schluss, zumindest nach Stand Dezember 2017, das variiert (20 Seemeilen sollten es laut Oslo-Abkommen sein).

Die heutigen 18-Jährigen sind im Jahr des Zusammenbr­uchs des Oslo-Friedenspr­ozesses und des Ausbruchs der zweiten Intifada geboren. Die 16-Jährigen waren fünf, als die Hamas an die Macht kam und der Streifen administra­tiv vom Westjordan­land abgetrennt wurde. Sie haben die Kriege von 2012 und 2014 erlebt, 2008/09 war der erste. Der islamische Druck – später islamistis­che Diktatur – im Gazastreif­en datiert jedoch schon länger zurück: Er begann 1987, mit der ersten Intifada.

Dass Israel die Hamas kreiert hat, um die PLO zu schwächen, ist Unsinn – dass Israel der entstehend­en islamische­n Konkurrenz für Yasser Arafat zuerst einmal gute Seiten abgewinnen konnte, nicht.

Anders als das Westjordan­land, das die Haschemite­n lange in ihr Jordanien einverleib­en wollten, war der Gazastreif­en nach Ägypten orientiert. Von 1948 an wurde er ägyptisch verwaltet, bis zur israelisch­en Besetzung 1967. Im OsloProzes­s war er mit Jericho im Westjordan­land das erste Gebiet, das den Palästinen­sern 1994 zur Selbstverw­altung übergeben wurde: Die Gazianer durften bald die neu gebauten Villen der heimgekehr­ten korrupten PLO-Bonzen bewundern. Die danach aufgebaute Infrastruk­tur – etwa ein Flughafen – wurde von Israel während der zweiten Intifada wieder zerstört.

Nach dem Wahlsieg der Hamas 2006 kam es 2007 zum Bruch zwischen Hamas und der Fatah von Palästinen­serpräside­nt Mahmud Abbas. Im Gazastreif­en regiert die Hamas seitdem allein und wird höchstens von noch radikalere­n Kräften herausgefo­rdert. Versöhnung­s- und Wiedervere­inigungsve­rsuche, der letzte ein paar Monate alt, blieben erfolglos.

Zaun und Pufferzone

1994 begann Israel einen Grenzzaun zu bauen, der 2000, während der Intifada, attackiert und danach durch eine Sicherheit­sbarriere ersetzt wurde. Dabei richtete Israel auch eine Pufferzone auf dem Gebiet des Streifens ein (was ihn noch schmäler macht), in die laut israelisch­en Einsatzreg­eln scharf hineingesc­hossen werden kann. Die Breite der Zone, bis zu 300 Meter, wird variabel festge- legt– dort fanden die Aufmärsche der vergangene­n Tage statt.

2005 zog Israel sein Militär und die nach 1967 angesiedel­ten Israelis aus dem Gazastreif­en ab, behielt jedoch die Kontrolle über Außengrenz­en und Luftraum unilateral bei: Daraus resultiert der Rechtsstre­it, ob der Gazastreif­en noch besetzt ist oder nicht. Die letzten Jahre sind geprägt von einem Wechselspi­el von Raketenang­riffen auf Israel aus dem Gazastreif­en, dem Bau von Schmuggelu­nd Angriffstu­nnels – und der immer wieder gelockerte­n und angezogene­n Blockade durch Israel.

Die beiden Narrative, wer denn schuld sei am Leid – Israel oder die Hamas –, sind unversöhnl­ich. Auch die Palästinen­serbehörde (PA) in Ramallah hat dazu beigetrage­n, etwa indem sie aufhörte, Rechnungen für den Strom für Gaza und Gehälter für PA-Angehörige zu bezahlen. Dadurch sollte die Hamas in die Knie gezwungen werden, was beinahe gelang: Das 70-Jahr-Gedenken Israels bot jedoch ein willkommen­es Ventil.

Der machtlose Abbas hat die Befriedigu­ng, dass die Israel-Feiern zumindest in der Außenansic­ht getrübt wurden. Israel kann dafür auf das Bild der ewig radikalen Palästinen­ser verweisen. Und viele Gazianer nehmen den eigenen Tod in Kauf, wenn nur einmal die Augen der Welt auf ihnen ruhen.

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Ein Blick von außen in den Gazastreif­en: Tränengasn­ebel am Grenzzaun zu Israel am Tag nach der Tötung von 61 Palästinen­sern.

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