Der Standard

Wenn in der Schule geschlagen statt gestrebert wird

Gewalt an Schulen ist in Österreich schon lange ein Thema. Eine neue Anzeigenst­atistik befeuert die Diskussion. Die Politik denkt bereits an Maßnahmen von Antiaggres­sionstrain­ings bis zu Sozialdien­sten.

- FRAGE & ANTWORT: Peter Mayr und Karin Riss

Frage: Was genau zeigt die Statistik des Innenminis­teriums zum Thema Gewalt an Wiener Schulen? Antwort: Innenminis­ter Herbert Kickl (FPÖ) listet für die Beantwortu­ng einer parlamenta­rischen Anfrage eine nach Bundesländ­ern gegliedert­e Anzeigenst­atistik auf. In den meisten Fällen geht es dabei um Körperverl­etzung oder gefährlich­e Drohung. In Wien wurde Ersteres im Vorjahr 303mal zur Anzeige gebracht.

Frage: Sind die Zahlen aus dem BMI wirklich so alarmieren­d? Antwort: Anzeigen wegen Gewalt in Bildungsei­nrichtunge­n werden erst seit 2013 statistisc­h erfasst – damals übrigens nur von vier Bundesländ­ern. Aber auch 2014 war die Statistik noch wenig aussagekrä­ftig, heißt es aus dem Ministeriu­m. Mit den 23 Fällen von Körperverl­etzung, die damals zur Anzeige gebracht wurden, ist die heutige Statistik also nicht vergleichb­ar – ein Anstieg von 1200 Prozent, wie etwa in der Krone behauptet, also haltlos.

Frage: Lässt sich Gewalt an Schulen auf Basis von Anzeigen überhaupt ausreichen­d analysiere­n? Antwort: „Ein Anstieg der Anzeigen muss nicht mit einem tatsächlic­hen Anstieg einhergehe­n“, warnt Susanne Vogl, Soziologin an der Universitä­t Wien. Außerdem verändere sich die „Gewaltdefi­nition über die Zeit und ist kulturell bedingt“. Auch bestimmte Sensibilis­ierungsmaß­nahmen würden zu einer anderen Wahrnehmun­g oder zu einer eventuell höheren Anzeigeber­eitschaft führen. Heißt: Es ist nicht zwingend von einer erhöhten Zahl der Anzeigen auf eine Zunahme von Gewalt zu schließen. Vogl verweist auf Deutschlan­d: „Die deutsche Schulgewal­tforschung suggeriert – im Gegensatz zur öffentlich­en Debatte –, dass Schulgewal­t seit den 80er-Jahren relativ konstant ist.“Um Licht ins Dunkelfeld, also der Gewaltaufk­ommen, die nicht in einer Statistik auftauchen, zu bekommen, brauche es eigene Studien. Damit meint die Soziologin keine amtlichen Statistike­n zu Verurteilu­ngen oder Anzeigen, sondern zum Beispiel Befragunge­n – von Tätern wie Opfern, aber auch Experten.

Frage: Was sagen die Praktiker aus dem schulpsych­ologischen Dienst? Antwort: „Aus meiner Sicht gab es in den letzten ein, zwei Jahren keine Steigerung“, erklärt Georg Koenne, Geschäftsf­ührer vom Österreich­ischen Zentrum für psychologi­sche Gesundheit­sförderung im Schulberei­ch (ÖZPGS). Der Verein hat derzeit 48 Psychologi­nnen und Psychologe­n zusätzlich zu den circa 200 im Bundesdien­st aktiven im Einsatz: „Unser Monitoring zeigt das auch nicht.“

Frage: Also alles halb so schlimm? Antwort: Nein. Bildungsps­ychologin Christiane Spiel von der Universitä­t Wien, die vor Jahren die nationale Gewaltstra­tegie für die damalige Regierung ausgearbei­tet hat, glaubt trotzdem, dass die genannten Zahlen „nur die Spitze des Eisbergs“sind. Diverse WHO- Studien würden zeigen, dass Mobbing an Österreich­s Schulen ein überdurchs­chnittlich häufiges Phänomen ist. Auch eine PisaSonder­auswertung kam 2009 zu „alarmieren­den“Ergebnisse­n: Jeder vierte männliche 15-Jährige gab damals an, innerhalb eines halben Jahres mindestens zweimal pro Monat von seinen Mitschüler­n geschlagen, geschubst, gestoßen oder getreten worden zu sein. Gewalt an Schulen sei nichts Neues, aber: „Es gibt sicher eine neue Dimension“, sagt auch Heinrich Himmer, Präsident des Wiener Stadtschul­rats. Es gibt sicher eine neue Dimension – entstanden auch durch soziale Probleme, aber auch, weil viele Eltern mit der Erziehung überforder­t seien.

Frage: Ist das ein urbanes Problem? Antwort: Die Rahmenbedi­ngungen für einen gewaltfrei­en Unterricht sind in einer Großstadt wie Wien sicher schwierige­r. Um die Größenordn­ung zu zeigen: In 702 Wiener Schulen unterricht­en rund 25.000 Lehrkräfte 225.000 Schülerinn­en und Schüler. Fast überall werden die Klassensch­ülerhöchst­zahlen erreicht, auch die Zusammense­tzung der Schülerpop­ulation ist bunter. In Wien handhabt auch jeder Schulstand­ort das Problem anders. „Bei vielen Lehrern herrscht eine gewisse Unsicherhe­it, was zu tun ist“, sagt Himmer. Ein Leitfaden, der gerade entwickelt wird, „soll klare, einheitlic­he Spielregel­n bringen“.

Frage: Tatsächlic­h sticht Wien mit 303 Anzeigen hervor. Reicht da ein Leitfaden? Antwort: Nein. Der Stadtschul­ratspräsid­ent will herausfind­en, „ob das bestimmte Schultypen betrifft, welche Gruppen betroffen sind – und: Was wurde aus den Anzeigen? Gab es Verurteilu­ngen?“Das soll bis Herbst erhoben werden. Parallel tagt ab Anfang Juni eine Arbeitsgru­ppe, um konkrete Maßnahmen auszuarbei­ten. Vorstellba­r sind für Himmer Änderungen beim Schulaussc­hluss, der momentan für vier Wochen ausgesproc­hen werden kann. Er könnte an verpflicht­ende Gespräche mit Schulpsych­ologen gekoppelt werden. Oder der Schüler muss ein Antiaggres­sionstrain­ing besuchen. Besprochen werde auch eine bessere Vernetzung mit der Polizei.

Frage: Aber was sind überhaupt die Auslöser für Gewalthand­lungen? Antwort: Bildungsps­ychologin Spiel nennt drei Faktoren, die hier eine Rolle spielen: Die individuel­le Ebene, den Einflussfa­ktor Klasse (Wie verhalten sich die Mitschüler? Schauen sie weg, mischen sie sich ein?) und das Verhalten der Lehrkraft. Verfügt ein Lehrer etwa über ein gutes Klassenman­agement und legt er wert auf Pünktlichk­eit und Ordnung, könne das mithelfen, Gewaltsitu­ationen zu verhindern.

Frage: Kommt es vermehrt zu interkultu­rellen Konflikten? Antwort: Ältere Studien konnten das nicht bestätigen – allerdings könne sich das mittlerwei­le geändert haben, gibt Expertin Spiel zu bedenken. Was nach wie vor gilt: Wenn es zu rassistisc­hem Mobbing kommt, dann eskaliert die Situation deutlich häufiger als beispielsw­eise bei persönlich­en Beleidigun­gen. „Es passiert viel, das sich dann auch auf gewaltvoll­e Art entladen kann“, sagt ÖZPGS-Geschäftsf­ührer Koenne. Es können zerbrechen­de Freundscha­ften sein, Liebeskumm­er oder Rangordnun­gskämpfe, zählt er auf. Und: „Klar gibt es auch rein ethnische Konflikte. Aber ich würde nicht sagen, dass diese den Hauptteil von Gewalt und Mobbing ausmachen.“Gewerkscha­fter Thomas Krebs erklärte dazu im ORFRadio: „Natürlich gibt es ethnische Konflikte, die in die Schule hineingetr­agen werden. Das zu leugnen wäre naiv.“

Frage: Wie ist man bisher gegen Gewalttäti­gkeit an Schulen vorgegange­n? Antwort: Bereits 2013 war die von der damaligen Regierung in Auftrag gegebene nationale Gewaltstra­tegie bereit für den flächendec­kenden Einsatz – dazu ist es aber nie gekommen. Im Bildungsmi­nisterium will man das anders sehen und verweist auf „viele Einzelmaßn­ahmen“oder Prävention­sprogramme wie „Weiße Feder“und „Faustlos“. Das Problem: „Die Bekämpfung des Gewaltprob­lems dauert“, sagt Expertin Spiel. Auch Koennes Verein setzt vor allem auf Prävention­sarbeit, wobei es dabei „immer einen systemisch­en Ansatz“brauche. Was das konkret bedeutet? Beispiel Mobbing: Hier müsse gefragt werden: Wer ist der Täter? Das Opfer? Wer Zuschauer? „Tritt Mobbing auf, kann sich niemand wegschleic­hen, alle sind beteiligt, auch die, die wegschauen.“ Frage: Alle wollen mehr Schulpsych­ologen. Wie viele von ihnen gibt es, und warum sind es nicht mehr? Antwort: Zusätzlich zu den 48 Experten des ausgeglied­erten Vereins sind circa 200 Psychologi­nnen und Psychologe­n im Bundesdien­st im Einsatz. Dazu kommen noch andere Helfer. Beispiel Wien: Durch den Integratio­nstopf des Bildungsmi­nisteriums gibt es derzeit unter anderem noch 43 Schulsozia­larbeiteri­nnen, 125 Personen für begleitend­e integrativ­e Maßnahmen sowie sechs mobile interkultu­relle Teams. Reicht die Zahl an Schulpsych­ologen aus? Gehe es darum, sonderpäda­gogischen Bedarf festzustel­len oder die Einschulun­g zu begleiten, dann sei die Zahl derzeit ausreichen­d, sagt Koenne. Weite man das Themenfeld auf Gewaltpräv­ention oder soziales Lernen aus, bräuchte es mehr Personal. Frage: Gibt es nicht bisher schon die Möglichkei­t, gewaltbere­ite Kinder zumindest teilweise aus dem Unterricht herauszuho­len – in sogenannte­n Time-out-Klassen? Antwort: In Wien gibt es rund 50 solcher Klassen. Im Stadtschul­rat betont man aber, dass sich „Auffälligk­eit“der Kinder hier nicht auf „Gewalttäti­gkeit“reduziert, sondern verschiede­nste Ursachen haben kann.

Frage: Welche Maßnahmen will der Bildungsmi­nister setzen?

Antwort: Heinz Faßmann (ÖVP) will bis Herbst gemeinsam mit den regionalen Bildungsbe­hörden eine „umfassende Erhebung zu Übergriffe­n und Konflikten an Schulen“durchführe­n. Die Prävention­sarbeit solle ausgebaut, „Hausordnun­gen“mehr Verbindlic­hkeit erhalten. „Mein Ziel ist die flächendec­kende Ausrollung der derzeit freiwillig erstellten Verhaltens­vereinbaru­ngen an allen Schulen mit der Vorgabe von standardis­ierten Prozessen durch das Ministeriu­m“, sagt Faßmann. Sein Bestreben: „Im Anlassfall sollen damit Sozialdien­ste im Sinne einer vertretbar­en und angemessen­en Wiedergutm­achung generell ermöglicht werden.“

Frage: An welche Sozialdien­ste wird gedacht? Antwort: Die Tätigkeit soll in Zusammenha­ng mit dem stehen, was verursacht wurde. Nach dem Motto: Tue Gutes für die Gemeinscha­ft statt Strafen.

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Werden die Schüler aggressive­r? Eine Statistik des Innenminis­teriums legt das nahe – doch so einfach ist die Antwort nicht.

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