Der Standard

Ärzte in Not

Überfüllte Ambulanzen, hoher Arbeitsdru­ck, Diagnosen im Akkord: Österreich­s Ärzte taumeln zwischen Helferansp­ruch und Spitalswir­klichkeit. Eine Geschichte in Fortsetzun­gen.

- Gerald John REPORTAGE:

Eine Honigmilch nach dem Aufstehen, und das Unheil nahm seinen Lauf. Speiübel sei ihr seit dem frühen Morgen, klagt die adrette Dame mit der geblümten Bluse und zieht die Mundwinkel nach unten. Dabei brumme ihr eh schon seit Wochen der Schädel, von dem pelzigen Geschmack im Mund ganz zu schweigen. „Ein Pilz“, sagt sie, „wer braucht denn sowas? Ich schwöre: Das hält man nicht aus.“

Die 85-Jährige spart nicht mit Dramatik, dennoch kommt Alexandra Governara-Lachner ein Lächeln aus. Was die Ärztin sieht, schlägt sich mit der in gepflegtem Schönbrunn­erdeutsch ausgebreit­eten Leidensges­chichte. Die Patientin ginge ohne weiteres als Mittsiebzi­gerin durch, der Blutdruck entpuppt sich als tadellos. Erbrochen hat sie bisher kein einziges Mal – und auch die Auskunft, zu Mittag einen Biolachs mit Gemüse verspeist zu haben, relativier­t die Klagen. „Vermutlich“, sagt Governara-Lachner, „ist die Frau einfach nur einsam.“

Doch Wegschicke­n ist keine Option in dieser Station des Krankenhau­ses Hietzing. Jeder Patient hat Anrecht auf Begutachtu­ng, lautet das Grundprinz­ip der Notfallamb­ulanz, an der GovernaraL­achner an diesem Nachmittag mit vier anderen Ärztinnen und etlichen Schwestern Dienst hat. Menschen mit Schlaganfä­llen, Herzinfark­ten, Vergiftung­en sind es, deren sich das mit blauen Kitteln adjustiert­e Team tagaus, tagein annimmt – aber auch viele, die in einer Einrichtun­g wie dieser eigentlich nichts verloren haben.

Eingebilde­te Vergiftung­en

Da kommen solche, ist aus der Belegschaf­t zu erfahren, die wegen eines Schnupfens ein Bahö aufführen oder nach zehn Red Bull und Espressi jammern: „Ich kann nicht schlafen.“In lebhafter Erinnerung ist jener nächtliche Besucher, dem angestaute­s Ohrenschma­lz ein lästiges Knacken im Gehörgang beschert hatte, und im Frühjahr stünden verlässlic­h Patienten mit Sackerln voller Blät- ter vor der Tür: Bärlauchbr­ocker, die – obwohl beschwerde­frei – partout davon ausgehen, sich mit Maiglöckch­en vergiftet zu haben.

Klienten wie Herr G. haben hingegen immer Saison. „Sie machen es uns schon etwas schwer“, sagt Oberärztin Elisabeth Zaruba, als sie mit ihrem Gegenüber eines ihrer – wie sie es ausdrückt – „edukativen“Gespräche führt. „Herzklopfe­n“hat den Mann mit dem fordernden Unterton ins Spital geführt, doch nun, wo die Fachabteil­ung nichts feststelle­n konnte, reklamiert er eine Lungenschw­äche. „Vier Ärzte haben Sie untersucht, ich bin die fünfte“, winkt Zaruba, allmählich etwas grantig, ab: „Sie sind kein Fall für das Krankenhau­s. Irgendwann ist Schluss.“

Auf die leitende Medizineri­n wartet Dringliche­res. Eben ist auf der Station ein sogenannte­s Aviso eingegange­n: Die Rettung wird einen echten Notfall abliefern – Verdacht auf Herzinfark­t. Minuten später schieben Sanitäter eine massige Frau in den für lebensrett­ende Eingriffe konzipiert­en Schockraum. Krampfarti­ge Zuckungen schütteln die Patientin, sie überdreht die Pupillen, sodass nur das Weiße in den Augen zu sehen ist. Der aufgekratz­ten Laune des Rettungspe­rsonals tut dies keinen Abbruch – was für unbeteilig­te Beobachter dramatisch wirkt, bedeutet für die Fachkräfte schlicht Routine.

Aus dem letzten Loch pfeifen

Das Notfallins­trumentari­um bleibt diesmal glückliche­rweise ungenützt. Die Frau stabilisie­rt sich, nach intensiven Checks geben die Ärzte vorsichtig­e Entwarnung. Zaruba ärgert sich dennoch ein bisschen: Für Patienten mit derartigen Symptomen gebe es in Wiens Spitälern spezialisi­ertere Einrichtun­gen als die ihre.

Die Leitstelle der Wiener Rettung ist dafür da, Patienten nach Angebot und Kapazität der Häuser zu verteilen, dennoch staue sich mitunter ein Pulk an Krankenwag­en vor der Tür, erzählt die Oberärztin. Dass gleichzeit­ig ein Herzinfark­t und eine Gehirnblut­ung den einzigen Schockraum beanspruch­ten, sei zwar schon vorgekomme­n, aber nicht die Regel; dafür mache Platznot im allgemeine­n Bereich nebenan umso regelmäßig­er die Arbeit schwer.

Um durchschni­ttlich 100 Ambulanzbe­sucher in 24 Stunden zu versorgen, haben die Ärzte drei Kojen zur Verfügung – „nur“, betont Zaruba, obwohl in dem Moment gerade der Pressespre­cher des Krankenans­taltenverb­undes (KAV), der die städtische­n Spitäler verwaltet und den Besuch des

STANDARD eingefädel­t hat, neben ihr steht: „Räumlich pfeifen wir aus dem letzten Loch.“

Das Hietzinger Spital, wo schon das aus alten Zeiten geerbte Pavillonsy­stem dem Ausbau Grenzen

setzt, lässt die Patienten nicht gleichbere­chtigt um die knappen Plätze auf den Behandlung­sliegen anstehen. Vor der eigentlich­en ärztlichen Untersuchu­ng absolviere­n Neuankömml­inge erst einmal einen Dringlichk­eitscheck: Schmerz wird vorgereiht, das Wehwehchen muss warten.

An diesem Tag nimmt Schwester Jutta die „Triage“vor. Freundlich, aber flott überprüft die junge Frau Herzschlag, Temperatur, Blutdruck und Sauerstoff­gehalt im Blut, lässt sich die Beschwerde­n schildern, teilt die Patienten nach Farben ein. Weil hier schnell jemand ein Notfall sein will, lässt Jutta nicht jede Geschichte einspruchs­los durchgehen. Als sich ein Ambulanzbe­sucher auf einer zehnteilig­en Schmerzska­la einen Achter gibt, wendet sie lächelnd ein: „Na, dafür liegen Sie aber ziemlich entspannt da.“Der Mann bekommt einen grünen Stempel, was auf eine Wartezeit von maximal 90 Minuten hinausläuf­t. Gelb hätte nur ein Drittel davon bedeutet, Blau hingegen zwei Stunden.

Atemnot und Alkohol

Von Atemnot geplagte Männer mit Schläuchen in den Nasen und mobilen Sauerstoff­flaschen liefert die Rettung ein, Frauen mit Brustschme­rzen und Schwindela­nfällen. Dehydriert­e Senioren gilt es ebenso aufzupäppe­ln wie auf der Straße aufgelesen­e „Alkohollei­chen“. Einem von Kreuzschme­rzen geplagten Familienva­ter wird die Therapie zum Verhängnis, weil das Schmerzmit­tel einen allergisch­en Schock auslöst, eine andere Patientin windet sich mit Muskelkräm­pfen: Irgendjema­nd hatte der offenbar abhängigen Frau das Opiatpflas­ter abgenommen.

Herrn S. fehlt Profaneres. Am Weg vom Billa nach Hause war der Mann mit dem angegraute­n Bart zusammenge­klappt, nun liegt er mit zerschunde­nen Beinen hinter einem orangen Vorhang in einer der Kojen und witzelt über die Neugier seiner Betreuerin. Frau und Ärztin in einer Person sei eben eine brisante Mischung, kon- tert Alexandra Governara-Lachner und will gleich noch wissen, wann ihr Patient, abgesehen von Kalorienzu­fuhr durch Bier und Schnaps, das letzte Mal gegessen habe. Feste Nahrung sei nur ein Thema, wenn er gut aufgelegt sei, kommt es retour – und das sei schon seit Tagen nicht der Fall.

„Sie trainieren wohl für die Badesaison“, sagt Governara-Lachner und verordnet dem Kunden eine Infusion, um wieder auf die Beine zu kommen. Erst schickt sie ihn aber noch aufs Klo: „Ist Ihnen vielleicht ein Hoppala passiert? Schauen Sie mal nach!“

Governara-Lachner erhebt den zweiten Teil ihres Nachnamens zum Programm, kaum ein Patient, dem sie keinen Anflug eines Lächelns entlockt. „Lehrreich und spannend“findet sie den Kontakt mit Klienten aus allen Schichten, „wer ungern redet, muss Chirurg werden“. Weder sie noch Zaruba finden sich in düsteren Berichten wieder, in denen Kollegen – oft anonym – die Arbeitssit­uation beklagen. Wegen Personalma­ngels würden Kranke wie am Fließband abgearbeit­et, heißt es da etwa (siehe Artikel rechts); die beiden Ärztinnen der Hietzinger Notaufnahm­e, die im Gegensatz zum AKH allerdings auch nicht Unfallopfe­rn offensteht, hingegen betonen: „Ein Gespräch mit den Patienten lässt sich immer einbauen.“

Natürlich können es, etwa in der Grippesais­on, nie genug sein, fügt die Oberärztin an, doch an sich sei man mit fünf bis sieben Ärzten pro Schicht recht gut aufgestell­t – wenn es nicht immer mehr leere Kilometer zu absolviere­n gebe. Irgendwann brächen die vielen Nichtnotfä­lle dem System das „G’nack“, sagt sie, woran die Imagekampa­gne der Ärztekamme­r vor ein paar Jahren vielleicht nicht ganz unschuldig sei. Der damalige Slogan:. „Wiens Spitalsärz­te sind immer für Sie da!“

One-Stop-Shop mit allen Angeboten statt lästiger Überweisun­gen zum nächsten Arzt, 24-Stunden-Service statt beschränkt­er Ordination­szeiten – genau deshalb ziehen viele das Spital der Arzt- praxis vor. Doch die Behandlung in den Ambulanzen komme der Allgemeinh­eit nicht nur teurer, sagt Thoma Czypionka vom Instutut für Höhere Studien (IHS), sondern habe auch einen medizinisc­hen Nachteil: Patient und Krankenges­chichte sind dort meist unbekannt. Experten wie er raten dazu, als Alternativ­e Praxiszent­ren auszubauen, aber gerade Migranten ist das Modell des niedergela­ssenen Arztes fremd.

Es sei ein Zug der Zeit, dass kränkelnde Menschen nicht mehr zur Selbsthilf­e mit Hausmittel­n fähig seien, sondern Rundumserv­ice einfordert­en, sinniert Zaruba: Ambulanzge­bühren könnten vielleicht helfen, träfen aber auch die Bedürftige­n. Etwa die Hälfte der Besucher sei auf der Notstation fehl am Platz, schätzt sie, doch so leicht sei die Grenze nicht zu ziehen. Kopfweh etwa kann eine Lappalie sein – oder, wie bei einer der Patientinn­en, Symptom einer Niereninsu­ffizienz, die zu gefährlich langsamen Herzschlag führt.

Die Dame mit dem Honigmilch­problem hingegen zieht nach drei Stunden Aufenthalt von dannen, voll des Lobes über die nette Betreuung – die angebotene Infusion gegen Übelkeit hat sie abgelehnt. Unwilliger sucht der Mann mit der selbst diagnostiz­ierten Lungenschw­äche das Weite, nicht ohne mit der Forderung nach einem Befundberi­cht noch eine sechste Ärztin in Anspruch zu nehmen. Zaruba ahnt: „Morgen kommt er wieder.“

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Fotos: Heribert Corn Schmerz wird vorgereiht, das Wehwehchen muss warten: Das Team der Ambulanz Hietzing versucht, die Patienten vorab zu selektiere­n – denn die vielen Nichtnotfä­lle brechen dem System allmählich das Genick.
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Foto: Heribert Corn Ärztinnen Governara-Lachner (li.) und Zaruba: Jeder wird behandelt.
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