Der Standard

Hinterblie­bene der Brandkatas­trophe von London klagen an

Untersuchu­ngskommiss­ion hört erschütter­nde Aussagen der Hinterblie­benen von 72 Opfern des Grenfell-Feuers

- Sebastian Borger aus London

Kamru Miah stammte aus Bangladesc­h, kam als 28-Jähriger nach London und arbeitete als Tandoori-Koch. Seinen vier Kindern kaufte er „mehr Eis, als wir essen konnten“, wie sich sein Sohn Mohammed Hakim erinnert. Im Alter litt seine Gesundheit, nach Schlaganfä­llen und einem Herzinfark­t war der 79-Jährige kaum noch mobil. „Er hätte nicht im 17. Stock leben sollen. Wir beschwerte­n uns immer wieder“, berichtet Hakim. Nichts geschah.

In der Nacht zum 14. Juni brach 13 Stockwerke tiefer ein Feuer aus in Miahs Wohnblock, dem Londoner Grenfell Tower. Weil eine erst kurz zuvor angebracht­e Verkleidun­g aus Polyäthyle­n und Aluminium als Brandbesch­leuniger agierte, konnte aus dem vergleichs­weise unbedeuten­den Brand eines Kühlschran­ks ein Inferno werden, das rasend schnell das gesamte Gebäude in Flammen hüllte.

„Bis zuletzt beisammen“

Mit Miah starben seine Frau Rabeya Begum und die längst erwachsene­n gemeinsame­n Kinder Hamid (28), Hanif (26) und Husna (22). Offenbar hatte das Trio die betagten Eltern nicht zurücklass­en wollen. „Ich bin sehr stolz, dass meine Familie bis zuletzt beisammen bleiben wollte“, sagte der einzige Hinterblie­bene, Hakim, am Ende seiner Gedenkansp­rache.

Ehe die unabhängig­e Untersuchu­ngskommiss­ion, die den Ursachen für die schlimmste Brandkatas­trophe Großbritan­niens seit Jahrzehnte­n nachgehen soll, ihre eigentlich­en Anhörungen aufnimmt, haben der Vorsitzend­e Richter Martin MooreBick und sein Team den Aussagen für die 72 Getöteten zwei Wochen eingeräumt. Damit soll der Opfer würdig gedacht werden. Der demonstrat­iven Geste liegt eine Lehre aus früheren Untersuchu­ngen zugrunde. So wurden die Opfer der Katastroph­e von Hillsborou­gh, bei der 1989 96 Fans des FC Liverpool ums Leben kamen, zunächst als „Leiche 52“und „Leiche 86“bezeichnet und dadurch entmenschl­icht.

So schwer es vielen spürbar fällt, die meisten Angehörige­n nehmen die Chance wahr, über ihre Toten zu sprechen. Immer wieder haben der pensionier­te Richter am Appellatio­nsgericht Moore-Bick (71) die Anwältinne­n und Zuhörer Tränen in den Augen.

Die Aussagen bringen neue Details ans Licht, zusammen mit Vorwürfen gegen die Bezirksreg­ierung und Feuerwehre­insatzleit­ung. „Wären wir sofort hinausgebr­acht worden, wären wir alle lebend davon gekommen“, ist Flora Neda überzeugt. Stattdesse­n galt: „Bleiben Sie in der Wohnung und warten Sie auf die Rettungskr­äfte.“

Freilich fehlte der Londoner Feuerwehr eine Leiter, die hoch genug gewesen wäre, um von außen an das Gebäude zu kommen. In heroischem Einsatz retteten Feuerwehr- leute mit schwerem Atemschutz 67 Bewohner. Neda gehörte nicht dazu: Die an Muskelschw­und leidende 53-Jährige gelangte auf dem Rücken ihres Sohnes Farhad (25) ins Freie, verbrachte anschließe­nd fünf Tage auf der Intensivst­ation und zwei Monate im Krankenhau­s.

„Wir verlassen diese Welt“

Ihr Mann Saber (57) kümmerte sich so lange um Nachbarinn­en, bis ihm der Rauch im Treppenhau­s den Weg versperrte. Um dem Flammentod zu entgehen, sprang er aus dem 23. Stock, nicht ohne vorher seiner Familie noch auf Band zu sprechen: „Goodbye. Wir verlassen diese Welt. Hoffentlic­h habe ich euch nicht enttäuscht.“

Die Enttäuschu­ng der Hinterblie­benen und Anwohner über die Vernachläs­sigung der Sozialmiet­er bleibt nach der Katastroph­e spürbar. Die Bezirksreg­ierung von Kensington&Chelsea (K&C) hatte jahrelang alle Warnungen vor der Brandgefäh­rdung des 24-stöckigen Wohnhauses für rund 400 Menschen ignoriert. K&C gehört neben dem Finanzzent­rum City of London zum reichsten Bezirk der 8,5-Millionen-Metropole.

Der Norden von Kensington, aus dem die ausgebrann­te Ruine des Grenfell Tower aufragt, gehörte zu den Slum-Ecken der Stadt; weiter südlich, rund um den Kensington-Palast, das Museenvier­tel oder die King’s Road in Chelsea sind Wohnungspr­eise von zehn Millionen Pfund normal. Die damit verbundene Verdrängun­g der einheimisc­hen Bevölkerun­g durch globale Spekulante­n haben Zentral- und Bezirksreg­ierungen jeglicher politische­r Couleur jahrelang klaglos hingenomme­n.

Die Anhörungen gehen kommende Woche weiter.

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Am 14. Juni 2017 brach das verheerend­e Feuer im 24-stöckigen Grenfell Tower aus. Dabei wirkte die Fassade wie ein Brandbesch­leuniger, 72 Menschen starben.

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