Marisa Merz, Frau im Herrenkränzchen
Alice oder die Schwere mit der Leere Lustvolle Geistessprünge auf der Architekturbiennale Marisa Merz gilt als einzige weibliche Protagonistin der Arte Povera. Im Schatten ihres Mannes Mario Merz schuf sie Kunst aus unedlen, „armen“Materialien. Das Museum
Und plötzlich fühlt man sich wie Alice im Wunderland, die von jenem Keks gegessen hat, der sie auf ziemlich kleine Größe schrumpfen ließ. Hoch oben, man kann gerade noch danach greifen, schwebt der Türgriff, ein Monsterding aus Edelstahl, auf einer vier Meter hohen Tür. Die Küchenkästchen groß und schwer, die Arbeitsplatte unerreichbar, die Steckdosen darüber wie ein überdimensionales Mahnmal der Industrie an der mit Dispersion gestrichenen Wand prangend.
Der Nationalpavillon der eidgenössischen Nachbarn unter dem Titel Svizzera 240: House Tour zählt zu den besten und überraschendsten Beiträgen der 16. Architektur-Biennale, die heute, Samstag, offiziell ihre Pforten öffnet. Nicht nur beweisen die Schweizer mit ihren surrealen Maßstabssprüngen von winzig klein bis ehrgebietend riesig eine gehörige Prise Humor, auch bei näherer, kritischer Betrachtung entpuppt sich die House Tour als überaus profunde Geistesspende zum diesjährigen Motto „Freespace“, den die beiden Direktorinnen Yvonne Farrell und Shelley McNamara zur Verzweiflung einiger Architekten zum Generalthema auserkoren hatten.
Langweilige Länderschauen
„Der zeitgenössische Schweizer Wohnbau sieht Parkettboden, weiße Wände und eine Raumhöhe von 240 Zentimetern vor“, erklärt Alessandro Bosshard, einer der Kuratoren. „Es gibt kaum eine Architektur, die wir öfter betreten, und doch nehmen wir diese Raumtypologie nie bewusst wahr. Wir wollten diesen sonst so unscheinbaren Raum bewusst wahrnehmbar und erlebbar machen.“
Es sind genau diese bewusst auf die Leere, auf das räumliche Nichts fokussierte Arbeiten, die die diesjährige Biennale – neben all den klassischen Ausstellungen und langweiligen Länderleistungsschauen – so lustvoll und so spannend machen. Im indonesischen Pavillon beispielsweise hängen weiße Büttenpapierrollen von der Decke, die mit sonoren Tönen beschallt werden.
An einer von insgesamt 33 weißen Säulen im Arsenale lehnt der Schweizer Architekt Valerio Olgiati. Es ist eine von ihm geschaffene Rauminstallation. „Freiraum als das Nichts ist ein verdammt schweres Thema, mit dem wir Architekten kaum noch umzugehen wissen“, sagt er. „Wir haben immer nur die Funktionen und die manifesten Baustoffe im Auge. Aber es braucht eine gewisse Leere, um Leere zu spüren.“
Die Kunstgeschichtsschreibung ist nicht gerade ein Vorzeigebeispiel für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Diesem Umstand wirkt das Museum der Moderne Salzburg (MdM) seit einigen Jahren entgegen. Beharrlich rückt Direktorin Sabine Breitwieser immer wieder Frauen der Gegenwartskunst ins Licht, ermöglichte neue Blicke auf das OEuvre von Carolee Schneemann, Ana Mendieta oder zuletzt Charlotte Moorman.
Ein Coup ist die aktuelle Ausstellung Der Himmel ist ein weiter Raum. Immerhin gedieh das Schaffen der Italienerin Marisa Merz buchstäblich im Schatten eines Mannes, jenem des Künstlers Mario Merz (1925–2003). Während der Gatte rausging, um als Vertreter der Arte Povera berühmt zu werden, blieb Marisa daheim. Sie kümmerte sich um Tochter Bea, besorgte den Haushalt – und schuf in den eigenen vier Wänden ihre eigene Interpretation der „armen Kunst“.
Dass die „Poveristi“unedle, alltägliche Materialien verwendeten, gab der Strömung ihren Namen. Als Angriff gegen die institutionalisierte Hochkultur war es gemeint, wenn man statt Marmor und Bronze nun „kunstferne“Materialien wie Stoff, Holz oder Erde für Skulpturen verwendete.
Diese Sprache eignete sich auch Marisa Merz an. Es ist nicht so, dass sie mit ihren Arbeiten nicht an die Öffentlichkeit getreten wäre. 1967 zeigte sie in einer Turiner Galerie eine mächtige Rauminstallation aus Aluminium: Monströs wuchern schuppige Schläuche von der Decke; wie technoide Quallen wirken die verschnörkelten Elemente der Installation, die aus Aluplatten zusammengetackert sind.
Eindrucksvoll vermittelt die Arbeit zwischen Industriematerial und organischer Anmutung – und fand entsprechenden Anklang. Ein Club für experimentelle Musik zierte sich damit; in einem Science-Fiction-Film tauchte sie auf. Und dennoch: Germano Celant, jener Kunstkritiker, der den Begriff Arte Povera geprägt hatte, förderte Marisa nicht wie die Herren der losen Gruppe. Mehr als die eine oder andere Teilnahme an Gruppenausstellungen sollte ihr für die kommenden Jahrzehnte nicht zufallen.
An der Produktivität von Merz änderte das nichts. Konsequent trieb sie ihre beredte Aneignung männlich besetzter Kunstsprachen voran: In Kopfzeichnungen zitiert sie Formen des technologieverherrlichenden Futurismus; in „armen“Altarobjekten lässt sie die Ikonenverehrung der Renaissance mit Blech, Spiegeln, Farbschmierern zusammenprallen.
Wachs und Nylon, derlei Materialien rang sie unzählige Kompositionen ab – vor allem aber auch Kupfer. Ein Leitmotiv der Ausstellung sind Strickstücke aus dünnem Kupferdraht. Merz applizierte sie auf Objekte, sie schuf daraus aber auch raumgreifende Arbeiten. Monumental hängt eine davon an der Wand, gleich einem „Netz, in dem sich das Gebäude verfängt“.
Dies eine Interpretation von MdM-Direktorin Sabine Breitwieser, an der sich eine spannende Frage festmachen lässt: Wie „feministisch“möchte man aus heutiger Sicht die Kunst der Merz lesen? Lässt sich, wie es der ein- schlägige Diskurs versucht hat, Kritik aus ihren Arbeiten lesen? Wird man hier mehr eine stoisch Ertragende erkennen?
Das Verhältnis zu Mario Merz jedenfalls war zeit seines Lebens ungetrübt. Die Eheleute unterstützten einander, realisierten Aktionen, traten bei Ausstellungen gemeinsam auf. Im MdM zeugt davon ein Arrangement aus spiralförmig angeordneten Glastischen, das Mario für die Teste Marisas schuf: Ab den 1970er-Jahren hatte sie sich intensiv mit einfühlsamen Kopfabstraktionen befasst.
So richtig rezipiert wird das Schaffen der heute 91-jährigen Künstlerin erst seit Anfang der Nullerjahre. 2001 erhielt sie auf der Biennale von Venedig einen Spezialpreis, 2013 den Goldenen Löwen für das Lebenswerk.
Bei der Aufarbeitung ihres Schaffens kommt übrigens erschwerend hinzu, dass Merz noch eine andere durchaus „maskulin“zu nennende Konvention des Kunstbetriebs unterwanderte: Die meisten Werke sind nicht nur unsigniert, sondern auch undatiert. Auf diese Weise sollte ihr Schaffen als organisches Ganzes wahrnehmbar werden. Bis 4. 11.