Der Standard

Jean Baudrillar­d: Die Agonie der Linken

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In Umkehrung des alten Marx-Zitats wäre es heute richtig zu sagen: „Die 68er haben die Welt nur verschiede­n verändert, es kommt drauf an sie zu interpreti­eren.“Mit dem Pariser Medientheo­retiker und Philosophe­n Jean Baudrillar­d (1929–2007) fand die Linke nur wenige Jahre nach ihrem Schlüsselj­ahr 1968 ihren gnadenlose­sten Richter.

Baudrillar­d (den meisten als Erfinder einer allerdings anspruchsv­ollen Simulation­stheorie geläufig) machte der französisc­hen Linken ihr Versagen auf der Bühne der Politik massiv zum Vorwurf. Den Anspruch auf eine radikale Umwälzung aller Verhältnis­se preisgeben­d, hätten sich Kommuniste­n und Sozialdemo­kraten gezwungen gesehen, für Differenze­n zu werben, die sie von den Rechten unterschie­den. Diese kleinen Abweichung­en hätten – mit Blick auf die zunehmende Gleichgült­igkeit der Massen – dennoch keinen Unterschie­d mehr gemacht.

Mit der Polemik Baudrillar­ds gegen die „Göttliche Linke“wurde, an der Schwelle von den 1970ern zu den 1980ern, das Erbe von 1968 unwiderruf­lich zu Grabe getragen. François Mitterrand wurde als Sozialist französisc­her Präsident. Doch die Linke bezahlte ihr Rendezvous mit dem Realitätsp­rinzip teuer. Der Abbau utopischer Überschüss­e mündet bis heute, 50 Jahre nach dem famosen Wonnemonat Mai 1968, in die brave Erfüllung von Chronisten­pflichten. Zu ihnen gehört die Versicheru­ng aller Beteiligte­n, dass damals alles gut gegangen, weil nicht viel geschehen war.

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