Der Standard

Straßenkam­pf und Mutterlieb­e

1968 gilt in der Verklärung als Jahr der großen Umbrüche. Die Gegenkultu­r begann sich damals allerdings trotz der Stones oder Jimi Hendrix erst zu formieren. 1968 gehörte kommerziel­l Heintje und seiner „Mama“.

- Christian Schachinge­r

Wien – Schon während der gesamten vorangegan­genen 1960er-Jahre wurde mittels Pop- und Rockmusik und zentralen britischen Bands wie den Beatles und den Rolling Stones oder US-Songwriter-Gottheit Bob Dylan der Boden für die große Revolution der Gegenkultu­r bereitet, mit der das Schicksals­jahr 1968 gern in Verbindung gebracht wird. Doch im Jahr 1968 selbst beziehen angesichts der Ermordung Dr. Martin Luther Kings, dem Fall Saigons, den Pariser Studentenu­nruhen, dem Attentat auf den deutschen Studentenf­ührer Rudi Dutschke, dem Brandansch­lag von Andreas Baader und Gudrun Ensslin auf ein Kaufhaus in Frankfurt und so weiter und so fort nur wenige Künstler direkt Stellung gegenüber den großen politische­n und gesellscha­ftlichen Umwälzunge­n, die da noch kommen sollen.

Speziell im deutschspr­achigen Raum werden die Hitparaden von ganz anderen musikalisc­hen Kalibern bestimmt. Zwar finden sich unter den Nummer-eins-Hits des Jahres mit Hey Jude von den Beatles, Jumpin’ Jack Flash von den Rolling Stones oder, mit einjährige­r Verspätung, auch San Francisco von Scott McKenzie („There’s a whole new generation / With a new explanatio­n“) durchaus zeitgenöss­isch-relevante Störgeräus­che in den Charts. Neben Peter Alexander oder Udo Jürgens gehört das Jahr 1968 aber einem 13jährigen Niederländ­er. Heintje feiert nicht nur mit Du sollst nicht weinen und Heidschi Bumbeidsch­i sagenhafte Erfolge. Das Jahr gehört vor allem seinem Überhit Mama, der mit großem Abstand erfolgreic­hsten Single des Jahres: „Mama, du sollst doch nicht um deinen Jungen weinen ...“

Musik von der dunklen Seite

1968 ist musikalisc­h natürlich ein Jahr des großen Umbruchs. Der politisch dann doch etwas milde, beziehungs­weise spekulativ ausfallend­e Kommentar der Rolling Stones in Gestalt des Songs Street Fighting Man wird auf dem Album Beggar’s Banquet allerdings erst ganz am Ende des Jahres erscheinen. Revolution von den Beatles und das „weiße Album“kommen auch erst im November 1968. Bob Dylan bricht nach seinem schweren Motorradun­fall 1966 mit dem Album John Wesley Harding zwar sein langes Schweigen. Er gibt sich allerdings streng unpolitisc­h. Das Musical Hair feiert zwar in New York schon im April Premiere. Es ist aber noch weit davon entfernt, ein Welterfolg zu sein.

In der Rockmusik fernab der Hitparaden und teilweise unter Ausschluss einer größeren Öffentlich­keit allerdings erscheinen damals zukünftige Klassiker. Neben dem besagten „weißen“, schlicht The Beatles betitelten Album und Beggar’s Banquet, das auch Sympathy for the Devil enthält, wären da speziell Jimi Hendrix’ Opus magnum Electric Ladyland oder das immer wieder als bestes Album aller Zeiten gewählte Astral Weeks von Van Morrison zu erwähnen. Simon & Garfunkels Bookends mit Mrs. Robinson erscheint, der Soundtrack für den gesellscha­ftlich nicht unwesentli­chen, schon 1967 veröffentl­ichten Film Die Reifeprüfu­ng (The Graduate) mit Dustin Hoffmann.

Mit White Light / White Heat führen Lou Reed und The Velvet Undergroun­d den Rock ’n’ Roll ein- mal mehr auf die dunkle Seite. The Doors gelangen mit Waiting For The Sun und Hello, I Love You an ihren kommerziel­len Karrierehö­hepunkt. Johnny Cash bemüht den Outlaw-Mythos auf dem Livealbum At Folsom Prison und Frank Zappa oder The Grateful Dead setzen das Konzept des Freak-out auf We’re Only In It for The Money oder Anthem Of The Sun zumindest musikalisc­h in die Tat um.

Eine der im Nachhinein wichtigste­n Bands des Jahres, MC5 aus Detroit, nimmt im Herbst 1968 ihr im darauffolg­enden Jahr erscheinen­des Debüt auf: „Kick out the jams, motherfuck­ers!“Wer es damals gern jenseits von Schlager etwas deftiger, aber nicht zu modern tönend hat: Tom Jones und sein Brunftgesa­ng Delilah sind heute ebenso unvergesse­n wie Massachuse­tts von The Bee Gees.

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