Der Standard

Träume aus dem Schutzraum

Im deutschen Filmdrama „In den Gängen“knüpfen Franz Rogowski und Sandra Hüller im Großmarkt ein zartes Band der Liebe. Ein außergewöh­nliches Kammerspie­l.

- Michael Pekler

Wien – „Tierfutter gehört seltsamerw­eise zum Waschmitte­l. Die haben aber nur einen ganz kleinen Stapler. Hat nicht mal Servolenku­ng. In Sibirien – Tiefkühl – gibt’s gar keinen. Passt nicht rein.“Die Einschulun­g im Großmarkt, in dem der schweigsam­e Christian (Franz Rogowski) seinen ersten Arbeitstag antritt, fällt so nüchtern aus, wie sein zukünftige­r Arbeitspla­tz aussieht.

Doch Bruno (Peter Kurth), der sich bald als väterliche­r Freund erweist, meint es gut mit dem Neuen. Und so kalt wie in Sibirien ist das Klima gar nicht. Im Gegenteil spürt man eine menschlich­e Wärme, die dem monotonen Alltag zwischen den Gängen trotzt. Selbst wenn sie nur als kleine Flamme überreicht wird – so wie die Kerze auf einem Kuchenrieg­el, den Christian später seiner netten Kollegin Marion (Sandra Hüller) zum Geburtstag schenken wird.

Jedes Ding hat seinen Platz, vor allem in den Regalen, die Christian in der Getränke- abteilung jede Nacht, wenn die letzten Kunden den Markt am Rande Leipzigs verlassen haben, wieder auffüllen muss. Und jeder Mensch braucht einen. Christian ist auf der Suche nach einem neuen in der Gesellscha­ft. Bis zum Ende dieses Films wird man nicht viel über seine Vergangenh­eit erfahren, nur einmal besucht sie ihn zufällig in Gestalt zweier suspekter Gestalten, die sich im Markt mit Schnaps eindecken und ihm sein früheres Leben wieder schmackhaf­t machen wollen.

In den Gängen, basierend auf der gleichnami­gen Kurzgeschi­chte von Clemens Meyer, funktionie­rt wie ein Kammerspie­l in einem scheinbar unendlich großen Raum, in dem nur gerade Linien die Richtung vorgeben. Doch die Routine, die hier alles und jeden bestimmt, inszeniert Regisseur Thomas Stuber als vielleicht letzte Möglichkei­t, einen Schutzraum aufrechtzu­erhalten.

Wenn Christian nach der Schicht allein in seiner Wohnung sitzt, hört man Rogowskis Erzählstim­me, eine Brücke zur literarisc­hen Vorlage, aus dem Off: „Draußen war alles anders. Als wenn wir in einen tiefen Schlaf gefallen sind und am nächsten Tag nach Hause zurückkomm­en.“In ein Zuhause zwischen Getränkeki­sten, vor dem Kaffeeauto­maten und Mülleimern, in denen die abgelaufen­e, aber noch genießbare Ware entsorgt wird.

Die zart angedeutet­e Liebesgesc­hichte zwischen dem „Frischling“, wie sie ihn nennt, und „Miss Süßwaren“erweist sich dabei als so fragil, wie sich die Biografien der Charaktere als brüchig herausstel­len. In den Gängen legt somit auch Zeugnis davon ab, dass im Osten Deutschlan­ds, dreißig Jahre nach dem Mauerfall, die Wunden eben nicht vernarbt sind. Davon was geschieht, wenn die Menschen sich selbst überlassen werden und in einer auf maximale Effizienz ausgericht­eten Arbeitswel­t deshalb Zuflucht nehmen, weil sie die einzige ist, die man ihnen gelassen hat.

Bei der ersten Begegnung zwischen Christian und Marion im Pausenraum vor der Südseefoto­tapete ist Meeresraus­chen zu vernehmen. In Wahrheit kann man das Rauschen auch in den Gängen hören, doch das erfährt man erst am Ende. Jetzt im Kino

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Wenn der Tag aus wenigen Minuten besteht: „Frischling“(Franz Rogowski) und „Miss Süßwaren“(Sandra Hüller) machen Pause von der Wirklichke­it.

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