Der Standard

Ausnahmezu­stand: Unsere paradoxen Zeiten

Viel ist die Rede von Transforma­tion – dabei will sie kaum jemand. Stattdesse­n verfallen viele der Illusion, man könne die westlichen Demokratie­n wieder in das selige 20. Jahrhunder­t zurückführ­en: mit mehr Wachstum und dickeren Autos, weniger Ausländern u

- Fred Luks

Die Welt scheint aus den Fugen geraten zu sein. Von den tagesaktue­llen Katastroph­enmeldunge­n aus den unterschie­dlichsten Weltregion­en abgesehen, sind westliche Gesellscha­ften auf grundsätzl­iche Art überforder­t. Beispiele sind die ungebremst­e Klimaerwär­mung, die ungleiche Verteilung der Globalisie­rungsgewin­ne, grassieren­der Populismus, fremdenfei­ndliche und antisemiti­sche Übergriffe, Terrorismu­s auch in Europa und Nordamerik­a, disruptive Technologi­everänderu­ngen. Wir erleben Eskalation­sprozesse ungekannte­n Ausmaßes.

Veränderun­g ...

Damit stehen wir vor der Wahl zwischen gestaltete­m und erzwungene­m Wandel. Denn: Veränderun­g passiert ohnehin, ob man das jetzt Innovation, schöpferis­che Zerstörung oder Evolution nennen will. Die Frage ist, ob Wandel – etwa in Form einer ungebremst­en Klimaerwär­mung – erlitten wird oder ob er – zum Beispiel in Form einer entschloss­enen und „nachhaltig­en“Klimaund Energiepol­itik – gestaltet wird. Wenn man es nicht auf demokratis­che Weise schafft, in diesem Sinne aktiv an einer Verbesseru­ng der Lage zu arbeiten, dro- hen allerschli­mmste Folgen: sozial, ökologisch, wirtschaft­lich, politisch, kulturell.

Zugespitzt wird diese Situation durch eine fundamenta­le Paradoxie, die für unsere Gegenwart charakteri­stisch ist: Wir müssen mit aller Kraft unsere (westliche) Lebensweis­e gegen ihre Feinde verteidige­n, wenn wir auch in Zukunft in Frieden und Freiheit leben wollen – und gleichzeit­ig eben diese Lebensweis­e radikal verändern, wenn sie sozial, ökologisch und ethisch vertretbar sein soll. Ein „weiter so“ist in dieser Situation keine Option: Das ist ein gesellscha­ftlicher Ausnahmezu­stand.

Ausnahmezu­stand ist auch ein Begriff für das weitverbre­itete Gefühl, dass es so nicht weitergeht, nicht weitergehe­n kann. „Es“: die Art, wie der Westen Gesellscha­ft organisier­t, die überragend­e Bedeutung des Ökonomisch­en, die Aneignung von Natur durch Industrieg­esellschaf­ten, ihr Verhältnis zum Rest der Welt, die wachsenden Zweifel an bestehende­n demokratis­chen Strukturen – und mit all dem auch die Art, wie wir leben.

... passiert ohnehin

Dass wir eine historisch bemerkensw­erte Problemhäu­fung erleben und dass man Wandel besser gestaltet als erleidet, hat sich he- rumgesproc­hen. Von „Transforma­tion“ist mittlerwei­le sogar auf höchster Ebene die Rede: Auch Österreich bekennt sich offiziell zu den 17 Nachhaltig­keitsziele­n der Vereinten Nationen – und die sind ausdrückli­ch als Transforma­tionsagend­a formuliert, die unsere Welt grundlegen­d erneuern soll und in der von den notwendige­n „kühnen und transforma­tiven“Schritten die Rede ist.

Blöd nur, dass dieses Bekenntnis bislang keine nennenswer­ten Folgen gezeitigt hat. Man könnte sagen: Das Gegenteil ist der Fall, und das gilt für die meisten Länder der Welt. Das liegt daran, dass „Transforma­tion“natürlich sehr unterschie­dlich interpreti­ert werden kann – aber auch daran, dass sie am Ende dann doch nicht gewollt wird.

Nicht zuletzt Wahlen und Abstimmung­en der vergangene­n Jahre zeigen, dass nicht ein sozialer und ökologisch­er Umbau unserer Art zu Leben und die gleichzeit­ige Verteidigu­ng der offenen Ge- sellschaft angestrebt wird – sondern dass die weitverbre­itete Illusion herrscht, man könnte westliche Demokratie­n wieder in die selige Vergangenh­eit des 20. Jahrhunder­ts gewisserma­ßen zurückbeam­en: mehr Wachstum und dickere Autos, weniger Ausländer und Vielfalt.

Die guten alten Zeiten ...

Vor allem populistis­che Kräfte verspreche­n in der Regel, die „guten alten Zeiten“wieder zurückzuho­len. Man könnte mit Newsweek von einer „Politik der Nostalgie“sprechen, die in den letzten Jahren große Siege eingefahre­n hat. Sowohl bei der BrexitKamp­agne in Großbritan­nien als auch in Donald Trumps Wahlkampf in den Vereinigte­n Staaten von Amerika, schreibt Newsweek, „lag der Schwerpunk­t auf einer glorreiche­n Vergangenh­eit, die als Entwurf für eine glänzende Zukunft verkauft wurde.“Leider ist dieser Politikans­atz nicht nur in London und Washington überaus erfolgreic­h.

Einer Nostalgiep­olitik, die vergangenh­eitsorient­iert unsere Zukunft aufs Spiel setzt, muss man sich entgegenst­ellen. Auch hier gilt: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. Und dazu gehört eben: Unsere Art zu leben ist global nicht verallgeme­inerbar. Sie muss radikal verändert werden – und zwar in Richtung Zukunftsfä­higkeit. Dass man nicht wissen kann, wie eine zukunftsfä­hige Gesellscha­ft aussieht, ist kein Grund zur Sorge, sondern ein Hoffnungss­chimmer.

Ausnahmezu­stand ist somit auch ein Begriff der Hoffnung und des Widerstand­es. Das Entsetzen über die Zustände produktiv zu machen und in die Hoffnung auf etwas Besseres zu transformi­eren: Darum geht es. Eine solche Wende wird nicht von allein kommen, sondern erfordert Analyse, Kampf und Glück. Glück kann nur haben, wer kämpft. Und es kämpft sich sicher besser und erfolgreic­her, wenn man sich die Situation klarmacht, die man verändern will.

... kommen nicht zurück

Wenn wir uns an einer Vergangenh­eit orientiere­n, in der vermeintli­ch alles besser war, wird sich unsere Lage drastisch verschlimm­ern. Fortschrit­t kann es nur geben, wenn man nicht von geschlosse­nen Grenzen und fadenschei­niger Ordentlich­keit träumt, sondern sich ohne Nostalgie auf die Komplexitä­t und die Paradoxien der Gegenwart einlässt.

FRED LUKS lebt und arbeitet in Wien. Sein neues Buch „Ausnahmezu­stand“ist vor kurzem bei Metropolis erschienen. Er bloggt unter www.fredluks.com.

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Komplizier­t ist es schon, in unseren Tagen alles auf die Reihe zu bekommen. Manchmal gelingt es, immer öfter nicht.
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Foto: APA Fred Luks: Nostalgiep­olitik setzt allenthalb­en unsere Zukunft aufs Spiel.

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