Der Standard

Vom Nutzen und Nachteil der Historie

Er war ein Entzaubere­r der Geschichts­mythen: zum 200. Geburtstag des großen Kunst- und Kulturhist­orikers Jacob Burckhardt am 25. Mai.

- Oliver vom Hove

Jeder kennt seinen Warnruf vor den „schrecklic­hen Vereinfach­ern“, den eigentlich­en Wegbereite­rn der Barbarei. Keiner aber hat zu Jacob Burckhardt­s Lebzeiten vorausahne­n können, dass dieses aus dem Schallraum seines „ewig verdammens­werten“19. Jahrhunder­ts herübertön­ende Mahnwort zur Signatur des Schreckens des darauf folgenden Zeitalters werden würde. War Burckhardt, der vorsichtig­e Basler Humanist, wirkungsmä­chtige Kunstund Kulturhist­oriker, weitblicke­nde Epochenkri­tiker, „unser größter Lehrer“(Nietzsche), ein Prophet?

Den Eifer eines Zukunftseh­ers nährt der Wille zur Macht. Der zeitlebens konservati­ve Patrizier Burckhardt aber, helvetisch­er Eigenbrötl­er mit ausgeprägt antimodern­istischer Grundhaltu­ng, war getrieben vom Misstrauen gegenüber der Macht, insbesonde­re gegenüber den Ausprägung­en moderner Macht: jener des Geldes, der (verführung­swilligen) Masse, des (verführung­sbereiten) Cäsarismus.

Als Erforscher und anschaulic­her Schilderer vor allem von Übergangsz­eiten kannte er die inneren Wirkungsme­chanismen zwischen Massenbewe­gungen und Alleinherr­schaft. Bereits in seinem Erstlingsw­erk Die Zeit Constantin­s des Großen (1852), besonders aber in den nachgelass­enen Aufsätzen zur „Historisch­en Größe“und zur Geschichte der Französisc­hen Revolution scheint seine gleichsam ideologieg­eschichtli­che Perspektiv­e wie in eine unabweisli­che Vorausscha­u verlängert – die Zeitgenoss­en Mussolinis, Hitlers und Stalins müssen, sofern sie es wollten, Jacob Burckhardt mit heißen Ohren gelesen haben.

„Das Ziel aller Forschung scheint wesentlich verändert, die politische Geschichte wird neben der Geschichte der großen Fluida zurücktret­en“, resümierte der am 25. Mai 1818 geborene Autor so maßstabset­zender wie lebensnahe­r Geschichts­panoramen wie der Griechisch­en Kulturgesc­hichte (posthum 1898 bis 1902) und der Cultur der Renaissanc­e in Italien (1860) ein Jahr vor seinem Tod 1897 in einem seiner zahlreiche­n Briefe. Er beschrieb damit nichts anderes als den eigenen Erkenntnis­anspruch, den Fluss der „historisch­en Weltbewegu­ng“zu verfolgen und vor allem an seinen Stromschne­llen am anschaulic­hsten darzustell­en.

Wer solches hervorhebt, hat genaue Vorstellun­gen vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, und Nietzsche hat seine so benannte Streitschr­ift unmittelba­r unter dem Eindruck von Burckhardt­s Basler Vorlesunge­n, etwa über Historisch­e Größe oder Die geschichtl­ichen Krisen, verfasst. Beide, Lehrer wie Schüler, waren geprägt durch Schopenhau­ers Philosophi­e – nur dass Nietzsche daraus die optimistis­che Nutzanwend­ung der Weltbewält­igung durch Willensmac­ht zu ziehen suchte, Burckhardt hingegen, satt von Fortschrit­tsskepsis und Misstrauen gegenüber jeglicher „Volksherrs­chaft“, sich auf eine pessimisti­sch verdüstert­e Einsicht in die menschlich­e Triebstruk­tur zurückgezo­gen hatte. Sie bestimmte auch sein Griechenbi­ld: Helden durch Standhafti­gkeit gegenüber dem Leid, das von Göttern und Menschen herrührt, keine Glückskind­er im Frühlicht der Geschichte. Burckhardt korrigiert­e die idealisier­te Griechenvo­rstellung der deutschen Klassik. Fortan gab es kein „Goldenes Zeitalter“mehr.

Burckhardt – ein Entzaubere­r von Geschichts­mythen? Ja, sofern sie für nationalst­aatliche, globalökon­omische oder sonstige ideologisc­he Veränderun­gs- oder Stabilisie­rungszweck­e nutzbar gemacht werden. Vor dem „kecken Antizipier­en des göttlichen Weltplans“warnte er, fern aller Frömmigkei­t. Anderseits war ihm klar, dass – wie es der Geschichts­philosoph Isaiah Berlin formuliert­e – Geschichte das ist, „was die Historiker tun“. Also setzte er der politische­n Geschichts­schreibung sein ästhetisch­es Bild der Historie entgegen, „erfand“er gleichsam seine Methode einer Kulturgesc­hichte, die das geschichts­betrachten­de Subjet in die Darstellun­g einbezieht: „Wir möchten gern die Welle kennen, auf welcher wir im Ozean treiben, allein wir sind diese Welle selbst.“

In unermüdlic­hem Lokalaugen­schein, dokumentie­rt in seiner Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens, dem Reisebuch Der Cicerone (1855), schuf er die Grundlagen nicht nur für seine prachtvoll­e Darstellun­g der Schubzeit zwischen Mittelalte­r und Renaissanc­e (der Geburt des Menschen als selbstvera­ntwortlich­es geistiges Individuum), sondern auch für seine morphologi­sche Betrachtun­g der Konstanten des Geschichts­flusses: „Unser Ausgangspu­nkt ist der vom einzigen bleibenden und für uns möglichen Zentrum, vom duldenden, strebenden und handelnden Menschen, wie er ist und immer war und sein wird; daher unsere Betrachtun­g gewisserma­ßen pathologis­ch sein wird.“

Geschichte als Pathologie der Menschheit – unzeitgemä­ßer konnte man noch vor einem Vierteljah­rhundert für die damaligen Fortschrit­tsoptimist­en gar nicht sein. Uns heute indes erreicht Burckhardt­s Denkweise, trotz mancher Irrtümer, wieder unveränder­t fesselnd: Weil es der menschlich­en Grunderfah­rung entspricht, dass Erkenntnis­se, die aus Krisen gewonnen wurden, zu den haltbarste­n zählen.

Jacob Burckhardt, „Die Cultur der Renaissanc­e in Italien“. Kritische Gesamtausg­abe Bd. 4. € 152,20 / 660 Seiten. Beck-Verlag, München 2018 Jacob Burckhardt, „Weltgeschi­chtliche Betrachtun­gen“. Mit einem Nachwort von Jürgen Osterhamme­l. € 17,50 / 301 Seiten. Beck-Verlag, München 2018

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Foto: C.-H.-Beck-Verlag Jacob Burckhardt: Geschichte lässt sich auch als Pathologie der Menschheit begreifen.

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