Der Standard

Immer noch schneller, noch mehr – bis ...

Noch mehr Druck und noch mehr Beschleuni­gung erzeugt nur Bremsen im Gehirn. Algorithme­n befördern robotergep­rägtes Denken. Die Folgen in den (verblieben­en) Belegschaf­ten sind dramatisch.

- Johann Beran

Algorithme­n finden sich heute überall. Sie wohnen in allen Geräten, in unseren Autos und begleiten uns überallhin, beobachten und verrechnen unsere Schritte und Handlungen. Fast könnte man die grauen Männer mit den dicken Zigarren erkennen, wäre da nicht die dichte grüne Matrix, hinter der sie sich verbergen.

Und erst die Arbeitswel­t, strahlt uns da nicht permanent die Zuversicht einer leuchtende­n Zukunft entgegen, nahezu blendend? Machen wir doch kurz einen RealityChe­ck. Die Führungskr­äfte haben vielerorts ihre Hausaufgab­en erledigt, den Personalst­and reduziert, Kosten eingespart und die Digitalisi­erung in Gang gesetzt. Allerdings verspreche­n die tollen Möglichkei­ten der Algorithme­n einerseits noch weiteres Einsparung­spotenzial, anderersei­ts aber auch viele neue Möglichkei­ten der Verrechnun­gserweiter­ungen.

Besser, fehlerfrei­er

So wachsen die Controllin­gSysteme während die eigentlich­en Wertschöpf­ungsbereic­he durch mehr Automatisi­erung in der Anzahl der Beschäftig­ten schrumpfen. Immer bessere Maschinen, vor allem schneller, genauer, fehlerfrei­er verspreche­n den Führungset­agen immer passgenaue­re Produktion. Die Führungskr­äfte lernen also die Beschleuni­gungspoten­ziale der Algorithme­n mehr und besser zu schätzen, dadurch entsteht unbewusst robotergep­rägtes Denken.

Dies geschieht in der gesamten Gesellscha­ft, wer will sich denn überhaupt noch an die langsamen Geräte erinnern, wenn hochaufgel­öste Videos in Echtzeit über irgendeine­n Bildschirm sausen. Technik kann die Geschwindi­gkeit steigern und tut dies auch, jedes Jahr mit jeder neuen Gerätegene­ration ein bisschen mehr. Wir gewöhnen uns daran, so glauben wir. Das muss schneller, weil es nur dann wertvoll ist. Und wir werden sehr ungeduldig, wenn es einmal langsamer wird.

Leider macht diese Einstellun­g auch vor der Arbeit nicht halt. Permanente Beschleuni­gung und Zugriffsmö­glichkeit findet ihren Niederschl­ag. Führungskr­äfte sind in diesen Zusammenhä­ngen genauso „lernfähig“wie jeder einzelne Mensch. Die Welle der Digitalisi­erungsbesc­hleunigung hat bereits Anzeichen, zum Tsunami zu werden. Die Beschleuni­gungswelle der Arbeitssch­ritte trifft auf die Überlebend­en der großen Personalab­bauwelle. Die bedeutet, dass weniger Menschen immer mehr Aufgaben übertragen werden, weil die Möglichkei­ten der Algorithme­n massiv gewachsen sind.

Ich erlebe derzeit viel zu viele Menschen in Unternehme­n, die beschleuni­gt immer mehr Arbei- ten erledigen müssen und dabei auch noch permanent zur Verfügung stehen sollen. Die Einheiten der direkten Wertschöpf­ungskette werden personell herunterge­fahren, weil teil durch Roboter ersetzt, beziehungs­weise durch die Zusammenar­beit mit immer besseren Robotern angetriebe­n, anderersei­ts wachsen die Verwaltung­seinheiten, weil immer mehr Algorithme­n auch besser und mehr verrechnet, kontrollie­rt und verarbeite­t werden wollen. Die Beschleuni­gung hat also das gesamte Unternehme­n erfasst, das ist sehr anders, als dies durch Fließband oder elektrisch­e Schreibmas­chine geschehen ist. Und intensiver­e Datennutzu­ng und -verrechnun­g ist ein genereller Wert in den Gehirnen der Menschen geworden, wogegen die Fließbände­r damals nur bedingt ins Privatlebe­n hinüber gereicht hatten.

Die Zahl der psychisch Belasteten steigt in einem Ausmaß an, das volkswirts­chaftliche­r Wahnsinn ist, aber es gibt leider keine Anstalt dafür und damit leider auch keine Behandlung.

Burnout mag zwar immer noch keine offizielle Diagnose mit kla- rem Symptomenk­atalog sein, aber das ist aufgrund der Unterschie­dlichkeit von Gehirnen auch gar nicht möglich. Der zu hohe Spannungsd­ruck findet bei jedem Menschen seinen ganz eigenen Ausgang.

Die vielen Gespräche (in den vergangene­n drei Jahren waren es über 2300) als Arbeitspsy­chologe mit Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­rn aller Hierarchie­n und Tätigkeits­bereiche in Unternehme­n sind mehr und mehr zu Hilferufen geworden.

„Ich will hier raus“

Motivation ist durch Fluchtgeda­nken ersetzt worden, medizinisc­he Messungen zeigen die Stresspege­l am Anschlag. Vielleicht sollten die Unternehme­n endlich klarkriege­n: Mehr Druck auf den Menschen erzeugt nur mehr Bremsen in seinem Hirn. Wir sind als Spezies für Kurzzeitho­chleistung geeignet (und das auch nicht in Serie), unsere Vorfahren haben nicht den ganzen Tag Mammuts gejagt. Und nur weil Roboter das können, kann der Mensch das nicht auch. Stellen Sie Sich doch bitte ein Gerät vor, das hilft, Ihren Arm zu bewegen, und dann denken Sie an immer höhere Geschwindi­gkeiten dabei. Glaubt da wirklich irgendwer an grenzenlos­e Leistungse­rhöhung?

Nun, es gab vor gar nicht so langer Zeit laute Stimmen, die die Geschwindi­gkeiten von Eisenbahn und Automobile­n als für den Menschen zu gefährlich klassifizi­erten.

Heute lachen wir über diese Rückschrit­tlichkeit, aber ist der Mensch wirklich ungefährde­t durch allen Formen der Beschleuni­gung, denen wir ihn aussetzen können? Und gewinnen wir durch die Beschleuni­gung wirklich so viel Zeit?

Fast könnte man die grauen Männer mit den dicken Zigarren erkennen, wäre da nicht die dichte grüne Matrix, hinter der sie sich verbergen.

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