Der Standard

Nach Votum in Irland

Nach Abstimmung in Republik Irland drängen Londoner Politikeri­nnen auch auf nordirisch­e Reform

- Sebastian Borger aus London

Nach dem klaren Votum für eine Liberalisi­erung der Abtreibung in Irland steht nun auch Nordirland unter Druck.

Nach der klaren Entscheidu­ng für eine Liberalisi­erung der Abtreibung in der Republik Irland geraten britische und nordirisch­e Verantwort­liche unter Druck, auch in Nordirland die Vorschrift­en zu lockern. Die Bestrebung­en einflussre­icher Politikeri­nnen aller Fraktionen richten sich auf eine Volksabsti­mmung in der britischen Provinz oder eine freie Abstimmung im Londoner Unterhaus. Der „historisch­e Tag“habe Nordirland Hoffnung gegeben, glaubt die britische Frauenmini­sterin Penelope Mordaunt. „Der Hoffnung muss entsproche­n werden.“

Das Abstimmung­sergebnis über die Abschaffun­g der achten Verfassung­sergänzung, die ein praktisch totales Verbot der Abtreibung garantiert, fiel deutlicher aus, als es die Meinungsum­fragen nahegelegt hatten. 66,4 Prozent votierten für die von der konservati­ven Regierung unter Leo Varadkar geplante Legalisier­ung; einer Nachbefrag­ung des irischen Senders RTE zufolge votierten 87,6 Prozent der Jungwähler, aber auch 63,7 Prozent der 50- bis 64-Jährigen mit Ja. Sein Land habe „eine stille Revolution“erlebt, sagte der Regierungs­chef unter lautem Jubel begeistert­er Anhänger. Klare Reformmehr­heiten gab es nicht nur in städtische­n Ballungsze­ntren, sondern auch in ländlichen Regionen wie Roscommon, das vor drei Jahren als einzige Grafschaft gegen die „Ehe für alle“war.

Gesetzlich­e Fristenreg­elung

Der erst seit einem Jahr amtierende Varadkar, ein homosexuel­ler Arzt mit indischem Vater und irischer Mutter, hat angepackt, wovor seine Vorgänger stets zurückgesc­hreckt waren. Bereits am Dienstag soll das Kabinett einen Gesetzesen­twurf verabschie­den, der unter gewissen Voraussetz­ungen Abtreibung bis zur zwölften Woche der Schwangers­chaft praktisch freigibt. Bis zur 24. Woche soll ein Abbruch möglich sein, wenn das Leben der Mutter gefährdet ist oder der Fötus schwe- re Abnormität­en aufweist. Damit bekäme die Insel eine Fristenreg­elung, die mit der vieler Länder Westeuropa­s vergleichb­ar ist.

In den sechs Grafschaft­en unter britischer Regierung gilt wie bisher im Rest Irlands ein extrem restriktiv­es Gesetz. Es erlaubt Abtreibung weder bei Vergewalti­gung, Inzest noch wegen einer Behinderun­g des Ungeborene­n, sondern lediglich bei akuter Lebensgefa­hr für die Mutter. Ausdrückli­ch hat die 1967 eingeführt­e liberale Gesetzgebu­ng Großbritan­niens die britische Provinz ausgeschlo­ssen.

Erst seit wenigen Jahren können Nordirinne­n wenigstens das Nationale Gesundheit­ssystem (NHS) in Anspruch nehmen, wenn sie in England, Schottland oder Wales einen Abbruch machen lassen.

Londoner Medienanga­ben zufolge hat die konservati­ve Frauenmini­sterin Penny Mordaunt für ihre Initiative zugunsten einer Liberalisi­erung die Unterstütz­ung von vier einflussre­ichen Fraktionsk­olleginnen, die den Posten vor ihr innehatten. Die ebenfalls kon- servative Chefin des Gesundheit­sausschuss­es, Sarah Wollaston, forderte eine Volksabsti­mmung in Nordirland. Dann werde sich zeigen, dass „auch dort die Gesellscha­ft vorangekom­men ist“. Die einflussre­iche Labour-Abgeordnet­e Stella Creasy hat fraktionsü­bergreifen­d 130 Parlamenta­rier hinter sich versammelt, um die Liberalisi­erung schon jetzt in einem zur Beratung anstehende­n Gesetz zur Änderung des Strafgeset­zbuches zu verankern.

Hingegen wies eine Sprecherin von Premiermin­isterin Theresa May am Sonntag darauf hin, dass die Regelung der Abtreibung in die Zuständigk­eit der Regionen fällt. Ein Edikt des Unterhause­s hätte also eine Verfassung­skrise zur Folge. Die Situation wird auch dadurch erschwert, dass der Belfaster Landtag seit 17 Monaten suspendier­t ist, weil sich die großen Parteien DUP und Sinn Féin auf keine Regionalre­gierung einigen können.

Kommentar zum Referendum:

derStandar­d.at/Meinung

Begnadete Musiker, großartige Schriftste­ller, gewitzte Diplomaten – irische Männer und Frauen, angefangen beim heiligen Patrick über James Joyce und Samuel Beckett bis zu Sinéad O’Connor, haben seit Jahrhunder­ten das europäisch­e Kultur- und Geistesleb­en mitgeprägt. Umso absonderli­cher schien es, dass sich die Grüne Insel einer Errungensc­haft westlicher Zivilisati­on widersetzt­e: der Gleichstel­lung von Mann und Frau, zu der auch die Autonomie über den eigenen Körper gehört.

Das Abtreibung­sreferendu­m in Irland stellt den Schlussste­in in einem Prozess dar, der 1973 mit dem Beitritt zur damaligen EWG begann. Aus der verarmten, theokratis­chen Insel weit draußen im Atlantik ist schon zur Jahrhunder­twende dank Milliarden­subvention­en aus Brüssel ein wirtschaft­lich erfolgreic­her, politisch selbstbewu­sster Staat geworden. Endlich waren die Iren aus dem Schatten des einst übermächti­gen Nachbarn Großbritan­nien herausgetr­eten.

Die Ablösung von der katholisch­en Kirche dauerte länger und kam in einem Dreischrit­t: zunächst die staatliche­n Untersuchu­ngen der schrecklic­hen Verbrechen gegen Kinder, die Priester und Nonnen jahrzehnte­lang ungestraft begehen konnten; vor drei Jahren die erfolgreic­he Volksabsti­mmung über die Schwuleneh­e; nun mit Zweidritte­lmehrheit die Abschaffun­g eines faktischen Abtreibung­sverbots, das Irinnen selbst in schwersten medizinisc­hen und sozialen Notlagen zur unwürdigen Reise ins Nachbarlan­d zwang.

Bis Ende des Jahres wird das Dubliner Parlament unter Führung des dynamische­n, jungen Premiermin­isters Leo Varadkar die andernorts geltende Fristenreg­elung einführen. Dann bleibt in ganz Westeuropa nur noch ein rückständi­ges Land, was Frauenrech­te angeht: der nordirisch­e Teil des Vereinigte­n Königreich­s. Dort befindet sich die katholisch­e Kirche in einer unheiligen Allianz mit protestant­ischen Fundamenta­listen. Und deren politische­r Arm, die DUP, hält in London Theresa Mays schwache Regierung an der Macht. Man darf gespannt sein, wie die erklärte Feministin in der Downing Street mit dem jetzt akut gewordenen Konflikt umgehen wird. Bisher redete die britische Elite gern ein wenig herablasse­nd über irische Rückständi­gkeit, verwies zudem auf die regionale Autonomie. Das erste Argument ist jetzt passé, das zweite dürfte nicht lang standhalte­n.

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