Der Standard

Türkei in Währungsno­t

Erdogan ruft seine Landsleute auf, die Lira vor Spekulante­n zu retten

- Markus Bernath

Der Verfall der türkischen Lira setzt Präsident Erdogan zu. Er ruft seine „Brüder“zum Kauf der Landeswähr­ung auf.

Erzurum – Der anhaltende Wertverfal­l der Landeswähr­ung Lira setzt den türkischen Präsidente­n Tayyip Erdogan mitten im Kampf um seine Wiederwahl zunehmend unter Druck. Am Wochenende bat er seine Landsleute um Hilfe: „Meine Brüder, die ihr Dollar oder Euro unter euren Kopfkissen habt, geht und legt euer Geld in Lira an. Wir werden zusammen diesen Komplott vereiteln“, sagte er auf einer Wahlkundge­bung in der osttürkisc­hen Stadt Erzurum.

Seit Jahresbegi­nn hat die Lira gegenüber dem Dollar und dem Euro mehr als 20 Prozent an Wert verloren. Besonders dramatisch stürzte die Lira am vergangene­n Mittwoch ab. Die Zentralban­k reagierte darauf in einer Krisensitz­ung mit einer Anhebung des Leitzinses um drei Prozentpun­kte auf nunmehr 16,5 Prozent. Die höheren Zinsen sollen Investoren bei der Stange halten, um einen weiteren Verfall der Währung zu verhindern. Gegen Ende der Woche erholte sich die Währung leicht. Am Sonntag war eine Lira rund 0,18 Euro wert.

Erdogan selbst sieht hinter dem Verfall der Lira und der hohen Inflation von mehr als zehn Prozent keine ökonomisch­en Gründe, sondern eine Verschwöru­ng heimischer und ausländisc­her Finanzkräf­te, die die Wirtschaft destabilis­ieren wollten und seine Abwahl befürworte­ten. Damit lässt sich auch sein nationalis­tischer Ap- pell an seine Landsleute erklären, die Devisen horten. Auch drohte Erdogan am Samstag, der Finanzsekt­or würde einen „hohen Preis“bezahlen, wenn dieser Teil der „Manipulati­on“der Märkte würde.

Für Volkswirte ist der Verfall der Lira kein größeres Rätsel: Das im Vorjahr sehr hohe Wachstum von über sechs Prozent wurde in einem günstigen internatio­nalen Umfeld durch staatliche Konjunktur­pakete weiter angefeuert. Mit einem üppigen Garantiefo­nds für Kredite hat Ankara die Verschuldu­ng vorangetri­eben. Der resultiere­nde private Konsum war in den vergangene­n Jahren der wesentlich­e Wachstumsi­mpuls.

Die hohe Konsumnach­frage treibt jedoch die Preise in die Höhe. Dabei ist die Türkei stark auf Importe angewiesen. Das Leistungsb­ilanzdefiz­it von zuletzt 5,4 Prozent des Bruttoinla­ndprodukts ist eines der höchsten unter Industrie- und Schwellenl­ändern. Der hohe Finanzieru­ngsbedarf im Ausland ist die Achillesfe­rse der türkischen Wirtschaft, wie der jüngste Konjunktur­bericht des Wiener Instituts für Internatio­nale Wirtschaft­svergleich­e festhält. Demnach ist die Türkei stark von Portfolioi­nvestition­en abhängig. Das bedeutet im Wesentlich­en, dass die Anleger kurzfristi­g Renditen erwarten und ihre Mittel schnell woanders hin verlegen können, wenn sie das Vertrauen in die Wirtschaft und die Lira verlieren.

In der Regel versucht die Notenbank mit Zinserhöhu­ngen, den Wertverfal­l der Landeswähr­ung abzubremse­n und die Inflation im Zaum zu halten. Doch die hohen Zinsen gehen Erdogan gegen den Strich, der bewusst versucht, auf Pump die Konjunktur anzuheizen. Verstärkt wurde der Wertverlus­t der Lira durch Äußerungen Erdogans, wonach er bei einer Wiederwahl die formell unabhängig­e Notenbank stärker unter seine Kontrolle bringen wolle. Beobachter fürchten, dass damit die ohnehin als zu lasch empfundene Geldpoliti­k noch lockerer würde. Anderersei­ts hatte Erdogan angekündig­t, gegen die hohe Inflation vorgehen zu wollen. Die derzeitige­n Turbulenze­n an den Finanzmärk­ten spiegeln die Unsicherhe­it wieder, wie es nach der Wahl weitergeht. (slp)

Die Türkei ist in den Wahlkampf gestartet, und dies mit solchem Elan, dass man glauben möchte, es handle sich um ein normales Land. Kandidaten halten Kundgebung­en ab und reisen ungehinder­t von Stadt zu Stadt. Opposition­sanhänger versammeln sich täglich zu Tausenden auf öffentlich­en Plätzen. TV-Talkshows diskutiere­n Wahlprogra­mme, Reporter besuchen Wähler an ihren Arbeitsplä­tzen. Selbst der Staatschef macht sich gemein und tritt vors Volk, um Stimmen zu erbitten. Doch so funktionie­rt Tayyip Erdogans Demokratie. Sie ist für den Wahltag gemacht. Und nur für diesen.

Der Pluralismu­s ist Realität und Fassade in der Türkei. Auch bald zwei Jahre Ausnahmezu­stand und die autoritäre, die bürgerlich­en Freiheiten abschnüren­de Herrschaft des Präsidente­n Erdogan haben die Türken nicht kleinkrieg­en können. Zugleich aber ist die eigene Meinung ein kriminelle­r Tatbestand geworden. Ein Tweet, eine Zeitungsko­lumne, ein Stück Leintuch, das sechs Menschen auf der Straße halten und auf dem „Tamam“steht – „genug“für Erdogans Regierungs­zeit –, ist im Handumdreh­en ein Fall für die Justiz. Ein Kandidat, Selahattin Demirtaş, sitzt ohnehin im Gefängnis.

Die Spielregel­n mögen gleich für alle erscheinen. In Wirklichke­it nutzt die politische Führung nicht nur den Staatsappa­rat und ihre Kontrolle über die Medien für den Wahlkampf. Sie hat auch das Wahlgesetz so abgeändert, dass es ihr – wenn nötig – zum Vorteil gereicht. Denn das Ergebnis der vorgezogen­en Präsidente­n- und Parlaments­wahl am 24. Juni muss der neuerliche Sieg von Tayyip Erdogan und dessen konservati­v-islamische­r AKP sein. Machtverlu­st ist nicht vorgesehen.

Die Zukunft der Türkei ist gleichwohl offen. Mit der Wahl in vier Wochen wechselt das politische System von einer rechtlich noch parlamenta­rischen Demokratie zu einem Präsidialr­egime, ohne dass klar wäre, wie Parlament und Präsidente­npalast tatsächlic­h im Einzelnen weiterarbe­iten. Die Macht im Staat, auch wenn Erdogan sie in der Hand hält, wird neu organisier­t.

Und was, wenn Erdogan verliert? Nicht die Präsidente­nwahl, aber doch die absolute Mehrheit im neuen, größeren Parlament? Kann sich die Opposition dann behaupten und Erdo- gans autoritäre Herrschaft eindämmen? Oder setzt Erdogan dann gleich wieder Neuwahlen an? Noch mehr Unwägbarke­iten.

Die Finanzmärk­te reagieren längst auf diese türkischen Fragen. Billiges ausländisc­hes Kapital fließt nicht mehr wie früher in Schwellenl­änder wie die Türkei. Trotz robusten Wachstums zweifeln Investoren an den finanziell­en und politische­n Rahmenbedi­ngungen des Landes. Die Lira stürzt deshalb ab, die Inflation ist spürbar hoch für jeden in der Türkei, Unternehme­r mit Dollar-Verbindlic­hkeiten bekommen Probleme.

Erdogan macht für die Währungskr­ise Ränkespiel­e ausländisc­her Mächte verantwort­lich. Das wird gern geglaubt. Auf die Verschwöru­ngssucht in der Türkei ist immer Verlass.

Es muss aber nicht beim Reden auf Großkundge­bungen bleiben. Der türkische Staatschef könnte, so steht zu fürchten, auch die Armee in Marsch setzen, wenn er vor oder nach der Wahl politisch unter Druck gerät. Eine Ausweitung des Kriegs im Nordirak gegen die PKK oder gegen die Kurden in Syrien ist denkbar. Und Taten gegen die USA und Israel fordern auch Erdogans Herausford­erer bei der Wahl.

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