Türkei in Währungsnot
Erdogan ruft seine Landsleute auf, die Lira vor Spekulanten zu retten
Der Verfall der türkischen Lira setzt Präsident Erdogan zu. Er ruft seine „Brüder“zum Kauf der Landeswährung auf.
Erzurum – Der anhaltende Wertverfall der Landeswährung Lira setzt den türkischen Präsidenten Tayyip Erdogan mitten im Kampf um seine Wiederwahl zunehmend unter Druck. Am Wochenende bat er seine Landsleute um Hilfe: „Meine Brüder, die ihr Dollar oder Euro unter euren Kopfkissen habt, geht und legt euer Geld in Lira an. Wir werden zusammen diesen Komplott vereiteln“, sagte er auf einer Wahlkundgebung in der osttürkischen Stadt Erzurum.
Seit Jahresbeginn hat die Lira gegenüber dem Dollar und dem Euro mehr als 20 Prozent an Wert verloren. Besonders dramatisch stürzte die Lira am vergangenen Mittwoch ab. Die Zentralbank reagierte darauf in einer Krisensitzung mit einer Anhebung des Leitzinses um drei Prozentpunkte auf nunmehr 16,5 Prozent. Die höheren Zinsen sollen Investoren bei der Stange halten, um einen weiteren Verfall der Währung zu verhindern. Gegen Ende der Woche erholte sich die Währung leicht. Am Sonntag war eine Lira rund 0,18 Euro wert.
Erdogan selbst sieht hinter dem Verfall der Lira und der hohen Inflation von mehr als zehn Prozent keine ökonomischen Gründe, sondern eine Verschwörung heimischer und ausländischer Finanzkräfte, die die Wirtschaft destabilisieren wollten und seine Abwahl befürworteten. Damit lässt sich auch sein nationalistischer Ap- pell an seine Landsleute erklären, die Devisen horten. Auch drohte Erdogan am Samstag, der Finanzsektor würde einen „hohen Preis“bezahlen, wenn dieser Teil der „Manipulation“der Märkte würde.
Für Volkswirte ist der Verfall der Lira kein größeres Rätsel: Das im Vorjahr sehr hohe Wachstum von über sechs Prozent wurde in einem günstigen internationalen Umfeld durch staatliche Konjunkturpakete weiter angefeuert. Mit einem üppigen Garantiefonds für Kredite hat Ankara die Verschuldung vorangetrieben. Der resultierende private Konsum war in den vergangenen Jahren der wesentliche Wachstumsimpuls.
Die hohe Konsumnachfrage treibt jedoch die Preise in die Höhe. Dabei ist die Türkei stark auf Importe angewiesen. Das Leistungsbilanzdefizit von zuletzt 5,4 Prozent des Bruttoinlandprodukts ist eines der höchsten unter Industrie- und Schwellenländern. Der hohe Finanzierungsbedarf im Ausland ist die Achillesferse der türkischen Wirtschaft, wie der jüngste Konjunkturbericht des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche festhält. Demnach ist die Türkei stark von Portfolioinvestitionen abhängig. Das bedeutet im Wesentlichen, dass die Anleger kurzfristig Renditen erwarten und ihre Mittel schnell woanders hin verlegen können, wenn sie das Vertrauen in die Wirtschaft und die Lira verlieren.
In der Regel versucht die Notenbank mit Zinserhöhungen, den Wertverfall der Landeswährung abzubremsen und die Inflation im Zaum zu halten. Doch die hohen Zinsen gehen Erdogan gegen den Strich, der bewusst versucht, auf Pump die Konjunktur anzuheizen. Verstärkt wurde der Wertverlust der Lira durch Äußerungen Erdogans, wonach er bei einer Wiederwahl die formell unabhängige Notenbank stärker unter seine Kontrolle bringen wolle. Beobachter fürchten, dass damit die ohnehin als zu lasch empfundene Geldpolitik noch lockerer würde. Andererseits hatte Erdogan angekündigt, gegen die hohe Inflation vorgehen zu wollen. Die derzeitigen Turbulenzen an den Finanzmärkten spiegeln die Unsicherheit wieder, wie es nach der Wahl weitergeht. (slp)
Die Türkei ist in den Wahlkampf gestartet, und dies mit solchem Elan, dass man glauben möchte, es handle sich um ein normales Land. Kandidaten halten Kundgebungen ab und reisen ungehindert von Stadt zu Stadt. Oppositionsanhänger versammeln sich täglich zu Tausenden auf öffentlichen Plätzen. TV-Talkshows diskutieren Wahlprogramme, Reporter besuchen Wähler an ihren Arbeitsplätzen. Selbst der Staatschef macht sich gemein und tritt vors Volk, um Stimmen zu erbitten. Doch so funktioniert Tayyip Erdogans Demokratie. Sie ist für den Wahltag gemacht. Und nur für diesen.
Der Pluralismus ist Realität und Fassade in der Türkei. Auch bald zwei Jahre Ausnahmezustand und die autoritäre, die bürgerlichen Freiheiten abschnürende Herrschaft des Präsidenten Erdogan haben die Türken nicht kleinkriegen können. Zugleich aber ist die eigene Meinung ein krimineller Tatbestand geworden. Ein Tweet, eine Zeitungskolumne, ein Stück Leintuch, das sechs Menschen auf der Straße halten und auf dem „Tamam“steht – „genug“für Erdogans Regierungszeit –, ist im Handumdrehen ein Fall für die Justiz. Ein Kandidat, Selahattin Demirtaş, sitzt ohnehin im Gefängnis.
Die Spielregeln mögen gleich für alle erscheinen. In Wirklichkeit nutzt die politische Führung nicht nur den Staatsapparat und ihre Kontrolle über die Medien für den Wahlkampf. Sie hat auch das Wahlgesetz so abgeändert, dass es ihr – wenn nötig – zum Vorteil gereicht. Denn das Ergebnis der vorgezogenen Präsidenten- und Parlamentswahl am 24. Juni muss der neuerliche Sieg von Tayyip Erdogan und dessen konservativ-islamischer AKP sein. Machtverlust ist nicht vorgesehen.
Die Zukunft der Türkei ist gleichwohl offen. Mit der Wahl in vier Wochen wechselt das politische System von einer rechtlich noch parlamentarischen Demokratie zu einem Präsidialregime, ohne dass klar wäre, wie Parlament und Präsidentenpalast tatsächlich im Einzelnen weiterarbeiten. Die Macht im Staat, auch wenn Erdogan sie in der Hand hält, wird neu organisiert.
Und was, wenn Erdogan verliert? Nicht die Präsidentenwahl, aber doch die absolute Mehrheit im neuen, größeren Parlament? Kann sich die Opposition dann behaupten und Erdo- gans autoritäre Herrschaft eindämmen? Oder setzt Erdogan dann gleich wieder Neuwahlen an? Noch mehr Unwägbarkeiten.
Die Finanzmärkte reagieren längst auf diese türkischen Fragen. Billiges ausländisches Kapital fließt nicht mehr wie früher in Schwellenländer wie die Türkei. Trotz robusten Wachstums zweifeln Investoren an den finanziellen und politischen Rahmenbedingungen des Landes. Die Lira stürzt deshalb ab, die Inflation ist spürbar hoch für jeden in der Türkei, Unternehmer mit Dollar-Verbindlichkeiten bekommen Probleme.
Erdogan macht für die Währungskrise Ränkespiele ausländischer Mächte verantwortlich. Das wird gern geglaubt. Auf die Verschwörungssucht in der Türkei ist immer Verlass.
Es muss aber nicht beim Reden auf Großkundgebungen bleiben. Der türkische Staatschef könnte, so steht zu fürchten, auch die Armee in Marsch setzen, wenn er vor oder nach der Wahl politisch unter Druck gerät. Eine Ausweitung des Kriegs im Nordirak gegen die PKK oder gegen die Kurden in Syrien ist denkbar. Und Taten gegen die USA und Israel fordern auch Erdogans Herausforderer bei der Wahl.