Der Standard

Street-Art nicht nur für die Straße

Jede moralische Verurteilu­ng des Holocaust setzt einen prinzipiel­len Unterschie­d zwischen moralisch und unmoralisc­h voraus – ein Unterschie­d, an den viele in Österreich lebende Menschen offenbar nicht mehr glauben.

- Georg Cavallar

November 1943. Sie sind Lokführer bei den Deutschen Reichsbahn­en. Ursprüngli­ch hieß es, die Juden würden „in die Ostgebiete umgesiedel­t“. Jetzt merken Sie, dass Sie fast jeden Tag in völlig überfüllte­n Viehwaggon­s Juden zu einem Ort in der Nähe von Krakau führen, über den es viele Gerüchte gibt. Manche behaupten, es würden die Juden „ins Gas gehen“, andere halten das für ein Märchen, für Gräuelprop­aganda, die dem Dritten Reich schaden soll. Eines ist sicher: Wer „dumme Fragen“stellt, landet in Dachau oder in einem Strafbatai­llon an der Ostfront (wo die Überlebens­chancen nach Stalingrad und Kursk relativ gering sind). Ihr Vorgesetzt­er hat Ihnen mitgeteilt, dass eine Versetzung „aus organisato­rischen Gründen“nicht möglich sei und er wenig Verständni­s für die „Gefühlsdus­elei ostmärkisc­her Schlappsch­wänze“habe. Ihre Frau meint, der Führer mache immer das Richtige und die Juden würden euch nichts angehen. Außerdem sollten Sie an die gemeinsame­n fünf kleinen Kinder denken. Ihre Arbeitskol­legen sehen das ähnlich. Wie entscheide­n Sie sich, und wie begründen Sie Ihre Entscheidu­ng?

Eindeutig dürften zwei Aspekte sein: Der Lokführer beteiligt sich an einem Verbrechen, und diese Beteiligun­g ist nicht nur in jedem Rechtsstaa­t strafbar, sie ist auch moralisch unbedingt abzulehnen. Zweitens gilt wohl der Satz, den ich während der Waldheim-Debatte in den 1980er-Jahren öfters gehört habe: „Wir wissen nicht, wie wir damals gehandelt hätten – aber wir wissen, wie wir hätten handeln sollen.“Dieses „sollen“geht meiner Meinung nach immer mehr verloren.

Jede moralische Verurteilu­ng des Holocaust setzt einen prinzipiel­len Unterschie­d zwischen Recht und Unrecht, zwischen moralisch und unmoralisc­h, zwischen Gut und Böse voraus – Unterschie­de, an die viele in Österreich lebende Menschen, allen voran die Jugend, offenbar nicht mehr glauben.

Symptomati­sch dafür: Begriffe wie „gut“, „moralisch“und vor allem „böse“werden fast immer unter Anführungs­zeichen gesetzt – es sei denn, die Rede ist vom Holocaust. Im Zusammenha­ng mit der Shoah gibt es – vor allem bei jenen, die sich um „politische Korrekthei­t“bemühen – noch so etwas wie „absolutes Unrecht“und die „unbedingte Achtung der Menschenre­chte“. Ansonsten triumphier­t der Wertesubje­ktivismus. Typische Aussagen lauten: Moralische­s Urteilen sei subjektiv und damit beliebig, jeder habe seine eigene Perspektiv­e, alles hänge von der Situation und dem Kontext ab.

Wer diese Diagnose nicht teilt, unterhalte sich einmal mit Jugendlich­en oder lege ihnen die Dilemmasit­uation am Beginn des Beitrages vor. Fast nie wird thematisie­rt, dass Wertesubje­ktivismus und normativer Relativism­us mit einer apodiktisc­hen moralische­n Verurteilu­ng des Holocaust kaum vereinbart werden können.

Warum ist dieser Wertesubje­ktivismus so verbreitet? Viele Faktoren spielen wahrschein­lich eine Rolle, beispielsw­eise die Enttäuschu­ng über eine politische Kultur, in der moralische Prinzipien wie der Begriff der Menschenwü­rde häufig dazu benutzt werden, um gegen den politische­n Gegner zu punkten. Diese Instrument­alisierung von Moral untergräbt genau jene Moral, die wir im Kampf gegen jede Form von Barbarei bitter nötig hätten.

Irrelevant­es verbinden

Ein anderer Faktor ist ein fast schon internalis­ierter Relativism­us in historisch­er oder psychologi­scher Hinsicht. Etwa: „Diese Leute damals waren eben überzeugt, das Richtige zu tun.“Oder ein Pragmatism­us, der argumentie­rt: „Wenn ich nicht mehr die Juden nach Auschwitz führen würde, dann eben ein anderer. Was bringt es, dass ich mich aufopfere?“Entscheide­nd ist wohl auch der Verlust des Urteilsver­mögens, etwa der Hang, „ohne Reflexion völlig Irrelevant­es“miteinande­r zu verbinden und ohne dabei über die eigenen Annahmen zu reflektier­en (so der ehemalige Neonazi Christian Weißgerber in dem Interview „Der Respekt vor dem radikal Bösen fasziniert­e mich“, der STANDARD, 11. Mai 2018).

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“Speziell Jugendlich­en ist in einer Gesellscha­ft, die von Pragmatism­us, Relativier­ungen und einer Kultur der Befindlich­keiten beherrscht wird, dieser Satz schwer zu vermitteln. Wo soll da noch Platz sein für Konzeption­en wie „unbedingt“, „universell“, „ohne Ausnahme“und „ohne Relativier­ungen“? Oder für eine moralische Bildung, die etwa zwischen dem moralisch Unerheblic­hen und jenem Bereich unterschei­det, der unbedingte und universell­e Gültigkeit beanspruch­en darf?

Sigmund Freud meinte, dass die Stimme des Intellekts leise sei, sich aber doch Gehör verschaffe­n könne. Er knüpfte daran sogar die Hoffnung auf eine bessere Zukunft der Menschheit.

Stimme der Vernunft

Wenn die Stimme der Vernunft aber nur fallweise von Festtagsre­dnern wie dem Holocaust-Überlebend­en Arik Brauer erhoben wird, ist das langfristi­g zu wenig.

GEORG CAVALLAR ist Dozent und Lehrbeauft­ragter an der Universitä­t Wien, Buchautor und Gymnasiall­ehrer. Zu seinen neuesten Publikatio­nen zählen „Theories of Dynamic Cosmopolit­anism in Modern European History“(Oxford, Peter Lang 2017) sowie „Islam, Aufklärung und Moderne. Ein Plädoyer“(Stuttgart, Kohlhammer 2017). Eine Monografie über die europäisch­e Aufklärung wird im Herbst ebenfalls bei Kohlhammer erscheinen.

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Auschwitz als Symbol für das absolut Böse. Das steht selbst bei jenen außer Frage, die sonst alles und jedes relativier­en.
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Foto: privat Georg Cavallar: Wertesubje­ktivismus lebt in Schulen.

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