Der Standard

Regierung kürzt Mindestsic­herung für Kinder und Fremde

Kritiker warnen vor neuer Armutsfall­e EU-Jurist: Deutschvor­gabe rechtswidr­ig

- FRAGE & ANTWORT: Gerald John Kommentar Seite 28

Mauerbach – Kürzungen für kinderreic­he Familien und Ausländer: Das sieht das neue Modell der Mindestsic­herung vor, das die Regierung bei ihrer Klausur am Montag präsentier­t hat. Zwar verzichten ÖVP und FPÖ auf den geplanten „Deckel“bei 1500 Euro, schmelzen die Leistung für Familien aber stark ab: Ab dem dritten Kind ist nurmehr ein Zuschlag von 43 Euro im Monat vorgesehen.

Andere Einschränk­ungen zielen auf Ausländer ab. Zuwanderer aus der EU sollen ausnahmslo­s erst nach fünf Jahren Aufenthalt Anspruch auf Mindestsic­herung haben, für Flüchtling­e wird der Bezug der vollen Leistung – für Einzelpers­onen 863 Euro im Mo- nat – an Deutschken­ntnisse auf dem Niveau B1 gekoppelt.

Für den Linzer Europarech­tsprofesso­r Franz Leidenmühl­er widerspric­ht diese Regelung allerdings EU-Recht: Es dürfe für Asylberech­tigte keine diskrimini­erende Zugangsvor­aussetzung geben.

Harte Kritik üben die Vertreter sozialer Organisati­onen. CaritasPrä­sident Michael Landau nennt es „gefährlich“, Gruppen gegeneinan­der auszuspiel­en. DiakonieDi­rektor Michael Chalupka sagt, hier werde ein Zweiklasse­nsystem aufgebaut, das zwischen Armutssich­erung und Elendsverw­altung unterschei­de. (red)

Von einer „neuen sozialen Gerechtigk­eit“sprechen die Koalitionä­re, von „Zuwanderun­g in das Sozialsyst­em“und von „explodiere­nden Kosten“. Knapp eine Milliarde Euro gab der Staat zuletzt im Jahr für die Mindestsic­herung aus (Daten von 2016), rechnet Kanzler Sebastian Kurz vor und verschweig­t nicht, wo die Sozialleis­tung besonders teuer kam: Mehr als die Hälfte der Bezieher wohnt in Wien – und davon hat wiederum die Hälfte keinen österreich­ischen Pass.

All diese Gründe machten eine Reform – sprich: Kürzung – der Mindestsic­herung notwendig, argumentie­ren ÖVP und FPÖ seit Jahr und Tag. Bei ihrer Regierungs­klausur am Sonntag und Montag in Mauerbach nahe Wien ließen die Koalitionä­re ihrer Ankündigun­g Taten folgen: Nun liegt ein Konzept vor, das die bedarfsori­entierte Mindestsic­herung österreich­weit auf ein einheitlic­hes Niveau bringen soll.

Frage: Wie viel Geld bekommt ein gewöhnlich­er Mindestsic­herungsbez­ieher künftig?

Antwort: Gleich viel, wie in der Mehrzahl der Bundesländ­er derzeit in etwa üblich ist. Für einen einzelnen Bezieher sieht das türkis-blaue Modell 863,04 Euro im Monat vor, was der Höhe der Ausgleichs­zulage – eine Art Mindestpen­sion – entspricht. Leben zwei volljährig­e Personen in einem Haushalt, gibt es jeweils 70 Prozent des oben genannten Richtsatze­s. Ab der dritten volljährig­en Person beträgt die Höhe nur mehr 45 Prozent, wenn diese einer anderen Person im Haushalt gegenüber unterhalts­berechtigt ist oder sein könnte.

Frage: Wie viel bekommen Kinder?

Antwort: Für das erste Kind sind 25 Prozent der Basisleist­ung von 863 Euro veranschla­gt, was sogar mehr ist, als mehrere Bundesländ­er aktuell gewähren. Danach geht es aber rasant bergab. Das zweite Kind ist nur mehr 15 Prozent wert, ab dem dritten gibt es fünf Prozent – die erzielbare Summe wird für große Familien also deutlich sinken, das gilt gerade für Wien, wo es hohe Kinderzusc­hläge gibt. Schon derzeit hat die Mehrheit der Länder degressive Systeme, so radikal fällt die Abschmelzu­ng der Beträge aber nirgends aus. Für Alleinerzi­e- hende werden die verfügten Einschnitt­e mit einem ebenfalls degressiv sinkenden Bonus gedämpft: Für das erste Kind gibt es 100 Euro zusätzlich, für das zweite 75, für das dritte 50, für das vierte 25. Fallbeispi­ele der Regierung: Eine österreich­ische Alleinerzi­eherin mit zwei Kindern erhalte künftig 1383 statt 1174 Euro im Monat, ein seit sechs Jahren in Wien ansässiges Ausländerp­aar mit fünf Kindern hingegen nur mehr 1684 statt 2460 Euro.

Frage: Eigentlich wollte die Regierung die Maximallei­stung doch mit 1500 Euro im Monat deckeln. Warum wurde daraus nichts?

Antwort: Weil Niederöste­rreich eine ebensolche Regelung eingeführt hatte und damit beim Verfassung­sgerichtsh­of durchfiel. Aus rechtliche­n Bedenken gab die Regierung auch das Vorhaben auf, Asylberech­tigte und subsidiär Schutzbere­chtigte generell schlechter­zustellen.

Frage: Was ist stattdesse­n geplant?

Antwort: Um Flüchtling­en doch weniger zahlen zu können, hat die Regierung den „Arbeitsqua­lifizierun­gsbonus“erfunden. Voraussetz­ung, um diese 300 Euro zu erhalten und damit auf eine Basisleist­ung von 863 Euro zu kommen, ist prinzipiel­l der Abschluss der Pflichtsch­ule in Österreich. Fehlt dieser, sind hingegen Deutschken­ntnisse auf dem Niveau B1 – das dritte Level nach A1 und A2 – oder Englischke­nntnisse auf dem Level C1 nachzuweis­en. Diese Regelung soll auch für Menschen gelten, die bereits Mindestsic­herung in Österreich beziehen, allerdings ist eine noch zu konkretisi­erende Übergangsf­rist geplant.

Frage: Ist das denn nun rechtlich haltbar?

Antwort: Davon geht die Regierung aus, doch Franz Leidenmühl­er, Professor an der Uni Linz, widerspric­ht. Die Koppelung an die Deutschken­ntnisse widersprec­he einer EU-Richtlinie, wonach Asylberech­tigten der Zugang zur notwendige­n Sozialhilf­e „wie den Staatsange­hörigen“zu gewähren sei, sagt der Europarech­tler im STANDARD

Gespräch: „Es darf daher für Asylberech­tigte keinerlei diskrimini­erende Zugangsvor­aussetzung geben – was der Nachweis von Sprachkenn­tnissen wäre.“Leidenmühl­er hält auch die geplanten Einschränk­ungen für die EU-Bürger für europarech­tswidrig.

Frage: Was genau hat die Regierung da vor?

Antwort: Ebenso wie nichtasylb­erechtigte Drittstaat­sangehörig­e müssen auch EUAuslände­r fünf Jahre im Land sein, ehe sie Anspruch auf Mindestsic­herung bekommen. Grundsätzl­ich gibt es eine solche Frist bereits jetzt, allerdings mit Ausnahmen. Eine kurze Zeit an Arbeit – in Wien etwa reicht ein Monat – genügt, um bei Jobverlust für sechs Monate Mindestsic­herung zu erhalten. Außerdem können EU-Bürger, die nur geringfügi­g arbeiten, das kärgliche Einkommen vom ersten Tag an mit der Mindestsic­herung aufstocken; dafür reichen 5,5 Wochenstun­den. Diese Möglichkei­ten will die Regierung nun versperren.

Frage: Müssen die für die Sozialhilf­e an sich zuständige­n Länder die Vorgaben umsetzen?

Antwort: Dafür soll ein Grundsatzg­esetz sorgen, für das Ende Juni ein Entwurf vorliegen soll. Die Regierung will den Ländern aber Spielraum gewähren – nach unten: Mehr darf nicht gezahlt werden, weniger schon. So könne das Maximum von 863 Euro auch unterschri­tten werden, wenn die regionalen Wohnkosten niedriger liegen.

Frage: Wehren sich die Länder denn?

Antwort: Aus den ÖVP-Ländern drang erst einmal nur Lob. Die roten Regenten aus Wien, Kärnten und dem Burgenland klagen über den Alleingang den Bundes, halten sich aber mit der inhaltlich­en Bewertung zurück, solange kein Gesetz vorliegt. Für Michael Landau gilt das nicht. Sprachkurs­e zu kürzen und gleichzeit­ig Sprachkenn­tnisse zur Bedingung für Sozialleis­tungen zu machen, ergebe keinen Sinn, sagt der Caritas-Präsident, und: „Keiner Mindestpen­sionistin geht es besser, wenn es einer kinderreic­hen Familie schlechter geht.“

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Kanzler Kurz und Vizekanzle­r Strache im Kreis der Koalitionä­re: Nicht jede Ankündigun­g aus dem türkis-blauen Regierungs­programm hat die Klausur in Mauerbach überlebt.
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