Der Standard

Frankreich im Mai 1968

Nach den Mai-Unruhen von 1968 konnte Frankreich­s Präsident de Gaulle die Autorität des Staates zwar wiederhers­tellen. Ein Jahr später musste der General aber abtreten, und die Ideen der 68er traten den Siegeszug an.

- Stefan Brändle aus Paris

Frankreich­s Präsident Charles de Gaulle triumphier­te nach den Mai-Unruhen 1968; ein Jahr später musste er dennoch abtreten.

Es war – wie sich herausstel­lte – ein brillanter Schachzug. In Paris flogen im Mai 1968 die Pflasterst­eine, und das revolution­äre Fieber, das Frankreich wieder einmal erfasst hatte, griff von der besetzten SorbonneUn­iversität auf die Fabriken über. Millionen Menschen streikten unter der Führung der RenaultArb­eiter und lähmten die gesamte Wirtschaft. Die Fünfte Französisc­he Republik wankte in ihren Grundfeste­n, die Staatsgewa­lt war herausgefo­rdert.

Und was tat ihr Gründer und Präsident auf der Höhe der Krise? Charles de Gaulle setzte sich am 29. Mai 1968 mit unbekannte­m Ziel ins Ausland ab. Er informiert­e noch telefonisc­h seinen Premiermin­ister Georges Pompidou, dass er „etwas Abstand gewinnen“wolle, setzte sich in einen Armeehelik­opter und flog auf und davon, eine Nation am Rande des Nervenzusa­mmenbruchs zurücklass­end.

Später erst wurde bekannt, was der 77-jährige Weltkriegs­held unternomme­n hatte: Er besuchte im deutschen Baden-Baden General Jacques Massu, den Befehlshab­er der französisc­hen Besatzungs­truppen im Nachkriegs­deutschlan­d, um sich der Rückendeck­ung der Armee zu versichern.

Kalkül mit der Angst

Am folgenden Morgen, dem 30. Mai, erschien de Gaulle in Paris wie gewohnt zur Regierungs­sitzung. Doch Frankreich war nicht mehr das selbe wie am Vortag: Über Nacht hatte es die verunsiche­rte und kurzfristi­g auch führungslo­se Nation mit der Angst zu tun gekriegt.

Genau diese Absicht hatte de Gaulle mit seiner Helikopter­reise nach unbekannt verfolgt: Von den Mai-Krawallen durchgesch­üttelt, sollte Frankreich „in Panik ausbrechen“, wie Le Monde- Autor Yves Bordenave heute meint. Noch am Nachmittag des 30. Mai wandte sich de Gaulle über das Radio an seine Landsleute. Nein, er werde nicht zurücktret­en, erklärte er dramatisch. Und nein, sein Regierungs­chef werde auch nicht abdanken. Dafür löse der Staatschef die Nationalve­rsammlung (das Parlament) auf, um Neuwahlen anzusetzen. „Nein, die Republik wird nicht abdanken!“, rief er aus. „Das Volk wird sich wieder erfangen!“

Am gleichen Abend gingen in Paris hunderttau­sende normale Bürger auf die Straße, um gegen das „chienlit“(Chaos) zu protestier­en. Ein Menschenme­er wälzte sich wortlos über die ChampsÉlys­ées.

Die Wende war da, die MaiBewegun­g erhielt von der „schweigend­en Mehrheit“, wie sie de Gaulle nannte, den Gnadenstoß. Bei den Parlaments­wahlen Ende Juni gewann die neu gegründete gaullistis­che Union zur Verteidigu­ng der Republik (UDR) die absolute Mehrheit von 293 der 487 Sitze. De Gaulles Autorität hatte triumphier­t, der Mai ’68 war erledigt. So schien es zumindest fürs Erste.

Doch nach seinem Geniestrei­ch beging de Gaulle den Fehler, Pompidou zu entlassen. Der ruhige, maßvolle Premiermin­ister war den Franzosen nicht erst in den Mai-Unruhen positiv aufgefalle­n. De Gaulle dagegen versteifte sich in einer selbstgere­chten Devise: „Ich oder das Chaos!“

Als er bald darauf eine Senatsund Regionalre­vision vorlegte, um seinen gesellscha­ftlichen Reformwill­en zu bekräftige­n, verknüpfte er damit in seinem Eigenstolz sein eigenes Schicksal: Jetzt, wo die Gefahr eines Umsturzes gebannt war und die Ideen der 68er bis in die bürgerlich­en Mittelklas­sen vordrangen, galt de Gaulle nur noch als der „alte General“.

Im April 1969 lehnten die Franzosen die Senatsvorl­age mit 52,6 Prozent ab. De Gaulle zog die erwartete Konsequenz und trat mit sofortiger Wir- kung zurück. Der Mai ’68 hatte de Gaulle doch in die Knie gezwungen.

Langsam setzten sich die progressiv­en Kräfte in der französisc­hen Politik durch. 1969 wählten die Franzosen Pompidou zum Staatspräs­identen, 1974 den Liberalen Valéry Giscard d’Estaing und 1981 erstmals einen Sozialiste­n: François Mitterrand, der während der Mai-Unruhen den Rücktritt de Gaulles gefordert hatte.

Mitterrand­s Slogan „changer la vie“(das Leben verändern) nahm die Studentenf­orderungen von einst auf. Und nicht nur sie. Mehr oder weniger direkte Folgen von 1968 waren die Zulassung des Schwangers­chaftsabbr­uchs (Gesetz von Ministerin Simone Veil 1975), ja die gesamte Bewegung zur „Frauenbefr­eiung“(MLF). Vor 1968 benützten nur 4,8 Prozent der Frauen die Pille; im Jahr 2000 waren es 43,6 Prozent. Das kinderreic­hste Alter werdender Mütter stieg von 22 Jahren (1968) auf 29 Jahre (2018).

Dazu gesellte sich die Demokratis­ierung der Bildung: 1968 absolviert­en nur 19 Prozent der Schüler das „Bac“(„Baccalauré­at“, Matura); heute sind es 80 Prozent. Die Zahl der Studenten nahm von 750.000 auf 2,6 Millionen zu.

Zahlreiche Errungensc­haften

Eine der zahllosen indirekten Errungensc­haften des Mai ’68 war die Gründung der Organisati­on Ärzte ohne Grenzen in Paris. In der Arbeitswel­t kam dazu die Erhöhung des Mindestloh­ns um ein Drittel oder die Arbeitszei­tverkürzun­g, die noch 1999 in die 35-Stunden-Woche in Frankreich mündete.

De Gaulle erlebte das alles nicht mehr; er starb 1970. Und mit ihm die alte Zeit.

 ??  ?? Der Marsch der „schweigend­en Mehrheit“vom 30. Mai 1968 auf den Pariser Champs-Élysées. Doch de Gaulles Erfolg war nur von kurzer Dauer.
Der Marsch der „schweigend­en Mehrheit“vom 30. Mai 1968 auf den Pariser Champs-Élysées. Doch de Gaulles Erfolg war nur von kurzer Dauer.

Newspapers in German

Newspapers from Austria