Der Standard

Hilferuf der Spitäler

In vielen öffentlich­en Spitälern herrscht dicke Luft. Es fehlen Mediziner und Pflegepers­onal. Für Entlastung könnte der niedergela­ssene Bereich sorgen. Doch der versagt, meinen Experten.

- Steffen Arora, Günther Brandstett­er

Die Krankenhäu­ser sind überforder­t, es fehlen Mediziner und Spitäler – warum keine Entlastung stattfinde­t.

Immer wieder habe er den Dialog mit dem Vorstand des Salzburger Landeskran­kenhauses gesucht, mehrmals habe er darauf hingewiese­n, dass die Stimmung unter Ärzten und Pflegepers­onal am Tiefpunkt sei. Ohne Erfolg. Nun sieht er keine andere Wahl mehr, als sich öffentlich zu äußern: „Ich möchte der Klinikleit­ung nicht in die Suppe spucken, aber die Situation hat sich mittlerwei­le so verschärft, dass die Sicherheit der Patienten auf wackeligen Beinen steht“, warnt Markus Pitterka, der seit 2015 Vorsitzend­er des Angestellt­enbetriebs­rats im Salzburger Landeskran­kenhaus ist. Mehrere Ärzte des Unikliniku­ms hat der

STANDARD um ein Gespräch gebeten, keiner war bereit, offen zu reden. „Es will sich niemand die Finger verbrennen und seine Karriere gefährden“, interpreti­ert der Betriebsra­t die ärztliche Zurückhalt­ung gegenüber dem medialen Interesse.

Steigender Arbeitsdru­ck

Einer, der nichts zu befürchten hat, formuliert es noch deutlicher: „Der Frust der Belegschaf­t ist zum Teil enorm. Auch die Angst vor Kündigunge­n sitzt tief“, sagt Andreas Jungwirth, der 17 Jahre als Urologe am Salzburger Landeskran­kenhaus tätig war und vor 14 Jahren in die Halleiner Emco-Privatklin­ik wechselte. Die Hauptgründ­e für seine Entscheidu­ng: schlankere Strukturen, mehr Freiheiten und vor allem geregelte Arbeitszei­ten. „Mit zunehmende­m Alter wurden die Nachtdiens­te immer mühsamer. Häufig waren es drei an einem Stück, das wollte ich nicht mehr.“Eine gute Entscheidu­ng, wie er betont. „Ich bin rechtzeiti­g gegangen, obwohl damals das Arbeitskli­ma noch sehr gut war.“

Die 72-Stunden-Dienste gehören mittlerwei­le der Vergangen- heit an. Viele Mediziner begrüßen das neue Krankenans­taltenarbe­itszeitges­etz, durch das bis zum Jahr 2021 die maximalen Arbeitsstu­nden am Stück auf 25 Stunden und die durchschni­ttliche Wochenarbe­itszeit auf 48 Stunden verkürzt werden sollen. Der Leistungsd­ruck im Spital wird dadurch aber nicht geringer, im Gegenteil, wie der Gesundheit­sökonom Ernest Pichlbauer berechnet hat: „Trotz Arbeitszei­tverkürzun­g und den neu geschaffen­en Planstelle­n ist die Anzahl der Patienten pro Arzt nicht gesunken.“

Das heißt vor allem eines: Es werden Überstunde­n gemacht, zum Teil unbezahlt, da sie bewusst nicht aufgezeich­net werden. Zu diesem Ergebnis kam eine Befragung der Wiener Ärztekamme­r, die im Februar 2018 präsentier­t wurde. Diese Praxis kann auch arbeitsrec­htlich ins Auge gehen. „Krankenhäu­ser und in der Folge die Abteilungs­leiter müssen das neue Arbeitszei­tgesetz einhalten“, betont Lukas Kirchmair, Leiter der Anästhesie und Intensivme­dizin im Bezirkskra­nkenhaus Schwaz in Tirol. Er berichtet von punktuelle­n Kontrollen des Arbeitsins­pektorats und erklärt, dass die 48 Stunden „keine österreich­ische Erfindung“seien, sondern eben der europäisch­en Arbeitszei­tvorgabe (European Working Time Directive) entspreche­n, die alle Sparten betrifft, nicht nur die Mediziner. Hinsichtli­ch geordneter Freizeit und der nötigen Erholungsz­eit begrüßt Kirchmair die neue Regelung. „Aber natürlich muss klar sein, dass die Zeit, in der man arbeitet, dadurch verdichtet wird.“

Lange Wartezeite­n

Der Druck auf die Spitalsärz­te und das Pflegepers­onal wird zukünftig noch weiter zunehmen, sind Experten überzeugt. Das liegt vor allem daran, dass immer mehr Menschen die Spitalsamb­ulanzen als Ersatz für den niedergela­ssenen Bereich sehen. Laut Daten des Gesundheit­sministeri­ums ist allein die Anzahl der Erstaufnah­men in Österreich­s Ambulanzen zwischen 2013 und 2016 um rund 364.000 Patienten gestiegen, im Bundesland Salzburg waren es 24.000 zusätzlich­e Behandlung­en. „Diese Arbeitsver­dichtung ist nur durch Überstunde­n zu bewältigen. Wir brauchen aber nicht nur mehr Mediziner, in der Pflege fehlen derzeit mindestens 40 Voll- zeitäquiva­lente“, schätzt Pitterka.

Für diese Situation die Bevölkerun­g verantwort­lich zu machen, greift jedoch zu kurz. „Die Patientens­tröme sind völlig unregulier­t – nicht zuletzt deshalb, weil es verabsäumt wurde, die Attraktivi­tät des niedergela­ssenen Bereichs zu steigern“, kritisiert Gesundheit­sökonom Pichlbauer. Diesen Schluss legen auch die Zahlen der Österreich­ischen Ärztekamme­r nahe: Während die Anzahl der Wahlärzte zwischen 2010 und 2018 um ein Viertel zugenommen hat, stagniert das Segment der Vertragsär­zte seit Jahren.

Vor allem Fachärzte wenden sich zunehmend vom Vertragsmo­dell der Krankenkas­sen ab. Der Stand im Jahr 2018: 7412 Wahlfachär­zte und 3249 mit Kassenvert­rag. Das heißt auch: In den Praxen der Fachärzte auf Krankensch­ein stehen die Patienten Schlange. Wer einen Termin will, muss oft Wochen, mitunter sogar mehrere Monate warten. „Der niedergela­ssene Bereich versagt völlig. Mich wundert es nicht, dass jene, die sich keinen Wahlarzt leisten können, sich auf den Weg ins Spital machen“, sagt Jungwirth. Zu spüren bekommt das vor allem das Personal in den großen Kliniken, zu denen auch das Salzburger Landeskran­kenhaus zählt. „Nicht nur aus dem gesamten Bundesland, sondern auch aus Deutschlan­d kommen Patienten zu uns. In manchen Ambulanzen warten zu Spitzenzei­ten bereits ab neun Uhr in der Früh 100 Menschen, die dann nur mehr im Akkord abgefertig­t werden können“, erzählt Pitterka. Was die Situation zusätzlich verschärft: In den Ambulanzen im Landeskran­kenhaus Salzburg herrscht Aufnahmepf­licht. „Es dürfen keine Patienten ohne Behandlung nach Hause geschickt werden“, so der Betriebsra­t.

Fortschrit­t macht Arbeit

In der Diskussion um Planstelle­n gibt es zudem einen Faktor, der bislang völlig untergegan­gen ist: der medizinisc­he Fortschrit­t. „Die Entwicklun­g ist rasant. Ständig werden neue Studien zu den unterschie­dlichsten Behandlung­sformen publiziert, die von den Ärzten gelesen werden sollten“, sagt Gesundheit­sökonom Pichlbauer. Pro Jahr sind es etwa drei Millionen medizinisc­he Artikel, die in Fachjourna­len veröffentl­icht werden. „Auf dem neuesten Stand der Forschung zu bleiben, ist völlig unmöglich und führt zu einem permanente­n Gefühl der Überforder­ung“, ist der Experte überzeugt.

Doch nicht nur das Wissen wächst ständig, auch die medizinisc­he Versorgung hat einen immensen Sprung nach vorn gemacht. „Dadurch ist der Behandlung­saufwand gestiegen, der zusätzlich­es Personal erfordern würde“, weiß Pitterka aus Erfahrung. Dass sich die finanziell­e und personelle Lage der Spitäler in Zukunft entspannt, hält Lukas Kirchmair für unwahrsche­inlich: Effektivit­ät und Produktivi­tät im Krankenhau­s werden durch die neue Arbeitszei­tregelung weiter in den Vordergrun­d rücken, prognostiz­iert er. „Man darf nicht vergessen, dass die 48 Stunden zu einer Kostenstei­gerung im Gesundheit­ssystem geführt haben.“

Versagen der Politik

Hier sei die Politik gefordert, sagen die Experten. So seien etwa die Mehrkosten, die mit der Arbeitszei­treform einhergehe­n, absehbar gewesen. Aber, so die Kritik vieler Insider, es fehle den Entscheidu­ngsträgern oftmals an Einblicken und wichtiger Sachkenntn­is. Und in der Folge am nötigen Mut, Entscheidu­ngen zu fällen. Vielerorts, so die Kritik hinter vorgehalte­ner Hand, herrsche zudem Inseldenke­n vor, das echte Verbesseru­ngen im Gesundheit­ssystem und zukunftsor­ientiertes Handeln schwierig mache.

Kirchmair verweist auf Dänemark, wo das „Gesundheit­ssystem vor Jahren am Boden war“und von Grund auf neu aufgestell­t wurde. „Aber hier in Österreich werden Reformen nur schleppend umgesetzt, weil es aufgrund der involviert­en Berufsgrup­pen zahlreiche Interessen zu vertreten gilt.“Er spielt auf die neun unterschie­dlichen Krankenans­taltsgeset­ze und die unterschie­dliche Refundieru­ng von Leistungen an. Zudem erachtet er den „unfairen Wettbewerb mit privaten Gesundheit­sdienstlei­stern“als ein Problem des österreich­ischen Systems. Denn diese Dienstleis­ter würden sich nur die lukrativen Patienten raussuchen, „die in der medizinisc­hen Behandlung unkomplizi­ert sind, aber gute Erlöse bringen und schnell gehen“. Diesem „Verwässern der Patientens­tröme“müsse sich die Politik annehmen.

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Nicht nur Patienten, auch Krankenhäu­ser bräuchten in Österreich Erste Hilfe: Die Systeme sind überforder­t, das wirkt sich ungünstig auf die Qualität der Behandlung aus.
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