Der Standard

Erschütter­nde, verschütte­te Erinnerung­en

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An jenem Tag, als Ze’ev Shek im Oktober 1944 mit einem Transport nach Auschwitz (später nach Dachau) gebracht wurde, begann seine Ehefrau die Ereignisse im Ghetto von Theresiens­tadt zu dokumentie­ren; als Fortsetzun­g seiner Tätigkeit. „Er hat hier nichts gesehen, dort wird er nicht weniger sehen ...“, lautet jenes Notat, die erste Eintragung. Das zynische Zitat stammt von SS-Obersturmb­annführer Karl Rahm, dem dritten Lagerkomma­ndanten des KZ Theresiens­tadt, bei Ansicht eines blinden KZHäftling­s. Alisa Ehrmann, 1927 in Prag geboren, mit Wiener und jüdischen Wurzeln, und ihre Schwester wurden 1943 nach Theresiens­tadt deportiert.

Die erst Siebzehnjä­hrige schildert in ihrem Tagebuch die gefährlich­en Veränderun­gen in dem sich in Auflösung befindende­n Lager, die widersprüc­hlichen Gerüchte, die prekären Verhältnis­se, die jahrelange Erschöpfun­g, die bis Kriegsende ständig präsente Todesgefah­r. Die Einträge beginnen zum Zeitpunkt der letzten Deportatio­nen von Theresiens­tadt nach Auschwitz und enden im Mai 1945 nach der Befreiung des Lagers durch die russische Armee.

Neben dem detailgena­uen und außergewöh­nlich ausdruckss­tarken Tagebuch, das die unsagbare Brutalität und Kaltschnäu­zigkeit der Tötungs- und Vernichtun­gsmaschine­rie, Zynismus und Menschenve­rachtung des Regimes zeigt, stehen Zeichnunge­n, Skizzen und Gemälde, die Ehrmann geheim im Lager bzw. danach als Verarbeitu­ng des Erlebten anfertigte. Stille, beeindruck­ende, bedrückend­e Szenen mitten aus dem Inferno. Sie illustrier­en Alltag, Tod, Verlust, Wiedersehe­n, Siechtum, Vergangenh­eit. Ein auf einer Papierroll­e gezeichnet­er Film präsentier­t die gemeinsame Lebens- und Liebesgesc­hichte. Das verklärend­e Happy End darf als Hoffnung interpreti­ert werden.

Nach dem Krieg gingen Alisa Ehrmann-Shek und ihr Mann Ze’ev Shek, die einander in der Prager zionistisc­hen Jugendbewe­gung Maccabi Hatzair kennengele­rnt hatten, nach Israel, gründeten eine Familie, engagierte­n sich (er als Diplomat u. a. in Wien) in diversen Organisati­onen für die Rettung jüdischen Kulturgute­s sowie für diverse Museen wie dem Beit Terezin, gedenkend der KZ-Opfer und Überlebend­en.

Die sorgsam edierte deutsche Ausgabe basiert auf einer von den Nachkommen Alisa Ehrmann-Sheks erstellten Transliter­ation des Tagebuchs und umfasst einen ausführlic­hen Anmerkungs­teil sowie die bislang nur in der hebräische­n Ausgabe gedruckten Zeichnunge­n. Ein starkes Vermächtni­s und ein Auftrag, niemals zu vergessen. Gregor Auenhammer

Alisa Ehrmann-Shek, „Ich denke an einen Sommer. Tagebuch und Zeichnunge­n aus Theresiens­tadt. 1944/45“. Begleitend­e Texte von Ze’ev Shek und Ruthi Lamberg-Ofek. Vorwort von Daniel Shek. € 28,– / 144 Seiten. Schlebrügg­e-Editor, Wien 2018

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