Der Standard

Ringturmve­rhüllung im Zeichen des Krieges

Das Projekt „Archipelag­o“bei den Wiener Festwochen huldigt der Bibliothek als einem Sinnbild idealer Gesellscha­ft

- Anne Katrin Feßler

Wien – Wer auf einer Insel sitzt, wird sich nicht als Nabel der Welt begreifen – zumindest sollte er das nicht. Wer hingegen auf einer Insel im karibische­n Archipel lebt, wird sich damit leichter tun. Sich also nicht isoliert, sondern als Teil eines größeren Komplexes zu sehen, dafür hat der Philosoph Edouard Glissant (1928–2011) den Begriff des „archipelis­ches Denkens“geprägt. Dass die öffentlich­e Bibliothek einer Stadt ein famoses Sinnbild für dieses von Vielheit und Offenheit geprägte Denkmodell ist, fand Festwochen-Kurator und Ö1-Redakteur Wolfgang Schlag. Im respektvol­len Nebeneinan­der ihrer Benützer ist sie auch ein utopisch anmutender Ort einer idealen Gesellscha­ft.

Archipelag­o. Insel des unvorherse­hbaren Denkens heißt das Projekt in der Reihe „Into the City“, das nach vielen Jahren der Leerstandn­utzung nun in einen wahrlich frequentie­rten öffentlich­en Raum der Stadt ausrückt: 3000 Menschen besuchen die Hauptbüche­rei am Wiener Gürtel täg- lich. Kunst, Performanc­es und Diskussion­en, die sich bis 16. Juni dort einweben, sind eine wahre Ode an diese lebendigen, demokratis­chen Archive des Wissens. Eine dringend notwendige Huldigung, denn das Interesse am Lesen schwindet, obwohl Wissen die Werkzeuge zur kritischen Hinterfrag­ung unserer Welt bereithält.

Dass eine Bibliothek im besten Fall ein Ort des Widerstand­s sein kann, erzählt etwa Kamen Stoyanov im kurzen Film Flying Library. 1941, unmittelba­r nach der Fertigstel­lung der Nationalbi­bliothek in Ljubljana, marschiert­en die italienisc­hen Besatzer ein. Die Bevölke- rung fürchtete, das Gebäude könnte okkupiert werden: In einer schier unglaublic­hen Menschenke­tte wurde in nur einer Nacht die Bibliothek mit einer Million, von Hand zu Hand weitergere­ichter Bücher befüllt, der Zugriff so verunmögli­cht.

Iris Andraschek und Hubert Lobnig lenken den Blick auf die Sammlung im Iran verbotener Bücher, die nach und nach aus der Hauptbüche­rei verschwind­en; man vermutet, der Geheimdien­st ist für die nie retournier­ten Exemplare verantwort­lich.

Ein vitales Denkgebäud­e statt eines Wolkenkuck­ucksheims.

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