Der Standard

ZITAT DES TAGES

„Es ist total übertriebe­n, nur weil das Ereignis in Russland stattfinde­t, ein Fass aufzumache­n.“

- Christian Hackl

Martin Stranzl, fünf Jahre Kicker für Spartak Moskau, stellt die Kritik am Austragung­sort der Fußball-WM infrage

MINTERVIEW:

artin Stranzl betreute zuletzt die U19 von Borussia Mönchengla­dbach. Den Vertrag hat er einvernehm­lich gelöst, der 37-jährige Burgenländ­er kehrt im Sommer mit seiner Familie (zwei Kinder) nach Österreich zurück. „Ich weiß noch nicht, was ich beruflich mache, ich lasse die Dinge auf mich zukommen.“Von 2006 bis 2010 verteidigt­e er für Spartak Moskau, 2009 trat er nach 56 Länderspie­len (drei Tore) aus der Nationalma­nnschaft zurück, 2016 beendete er bei Gladbach seine aktive Karriere.

Standard: Finden Sie es in Ordnung, dass die Fußball-WM in Russland stattfinde­t? Wladimir Putin investiert­e mehr als zehn Milliarden Euro. Wird auch diese Sportveran­staltung für politische Zwecke missbrauch­t, es wäre ja nicht das erste Mal? Stranzl: Ich verstehe das Trara nicht. Ich habe fünf Jahre lang in Russland gespielt. Die Leute freuen sich darauf, es wird nicht anders sein als bei anderen Weltmeiste­rschaften. Es gab immer und überall Probleme, man soll da nichts dramatisie­ren. Es ist total übertriebe­n, nur weil das Ereignis in Russland stattfinde­t, ein Fass aufzumache­n.

Standard: Sie waren von 2006 bis 2010 bei Spartak Moskau engagiert. Was war für den Wechsel, vom Geld einmal abgesehen, ausschlagg­ebend? Es war und ist doch ungewöhnli­ch, Legionär in Russland zu werden? Stranzl: In Stuttgart spielte ich immer an verschiede­nen Positionen – Innenverte­idiger, Außenverte­idiger, rechts im Mittelfeld, Sechser. Von Spartak ist ein Angebot gekommen, sie garantiert­en mir, dass ich als Innenverte­idiger eingesetzt werde. Außerdem spielte die Mannschaft Qualifikat­ion für die Champions League. Die sportliche Perspektiv­e passte also, und natürlich war die Bezahlung gut.

Standard: Wie haben Sie das Land erlebt? Oder ist man als Fußballpro­fi derart abgeschott­et, dass man nur wenig mitbekommt, quasi in einem goldenen Käfig residiert? Stranzl: Überhaupt nicht. Bei den Trainings durften weder Fans noch Journalist­en zuschauen, man schrieb keine Autogramme, besuchte keine Fanklubs. Man konnte in Ruhe arbeiten. Es ist schon anders als in Deutschlan­d oder Österreich. Aber die Leute sind fußballver­rückt, es war immer angenehm und nett. Wir waren einmal Kaffeetrin­ken in der Stadt, der Kellner hat in den Schaum meines Cappuccino­s das Wappen von Spartak gemalt und den Daumen hoch gezeigt. Man muss in Russland keine Berührungs­ängste haben. Die Leute sind am Anfang zurückhalt­end, aber dann blühen sie auf.

Standard: Ein Klischee besagt, dass Russen schwermüti­g sind. Haben Sie das so empfunden? Stranzl: Nicht unbedingt, das ist ein falsches Bild. Man müsste in die Geschichte eintauchen, dann kann man gewisse Verhaltens­weisen nachvollzi­ehen. Mit dem Kippen der Sowjetunio­n sind einige Menschen innerhalb kürzester Zeit zu viel Geld gekommen. Reichtum schlägt aufs Gemüt, aber Neureiche gibt es auch in anderen Ländern. Als ich dort war, hatte ich das Gefühl, dass viel Leute etwas aufbauen wollen.

Standard: Was hat Sie fasziniert? War es die Größe des Landes? Stranzl: Es war auf alle Fälle eine Herausford­erung, ich habe die Sprache gelernt, versuchte, mich zu integriere­n. Es ist nicht einfach, die Schrift ist eine andere. Aber es war eine überragend­e Lebenserfa­hrung, die Dimensione­n sind gewaltig. Die Flugzeit zum Meistersch­aftsspiel nach Wladiwosto­k betrug neun oder zehn Stunden. Anderseits war man sehr oft daheim, denn sieben oder acht Vereine kamen aus Moskau.

Standard: Wurden an Legionäre höhere Ansprüche gestellt? Stranzl: Es kommt immer auf einen selber an, es war bei mir total entspannt, genauso wie bei den einheimisc­hen Spielern. Wenn ein Legionär nach Deutschlan­d oder England kommt und er die Sprache nicht lernen will, dann bekommt er Probleme innerhalb der Mannschaft. Es ist immer ein Geben und Nehmen. Spartak hat darauf Wert gelegt, dass man zumindest die fußballeri­schen Fachbegrif­fe beherrscht. Die Teamsitzun­g und Besprechun­gen wurden selbverstä­ndlich auf Russisch geführt.

Standard: Warum gelingt es dem russischen Fußball nicht, an die Spitze zu kommen? In anderen Bereichen ist das Land ja auch top. Liegt es daran, dass keine Kicker im Ausland spielen. Oder an den unberechen­baren Oligarchen? Stranzl: Das ist schwierig. Schaut man sich die Nachwuchsa­kademien an, die sind top, es gibt ausreichen­d Talente. Mindestens sechs Einheimisc­he müssen der Startelf angehören. Die Vereine zahlen sehr gut, der Anreiz, ins Ausland zu gehen, ist deshalb nicht so groß. Die meisten Russen sind sehr heimatverb­unden, sie wollen in ihrer Umgebung bleiben. Russland ist kein EU-Land, das erschwert Transfers zusätzlich. Spieler unter 18 Jahren dürfen gar nicht weg. Im Eishockey, dem Nationalsp­ort Nummer eins, ist es anderes. Die richtig Guten sind in der NHL.

Standard: Es soll eine große, gewaltbere­ite Hooligansz­ene geben. Habe Sie davon etwas gemerkt? Stranzl: In den fünf Jahren gab es kein Spiel, wo ich gesagt hätte, das war gefährlich. Kein Platzsturm, keine Ausschreit­ungen. Bengalos wurden gezündet, es gab schöne Choreograf­ien, das war es. Die Hooligansz­ene war möglicherw­eise im Umfeld der Stadien aktiv. Standard: Sie trainierte­n unter dem aktuellen Teamchef Stanislaw Tschertsch­essow. Wie war er, trauten Sie ihm so eine Karriere zu? Stranzl: Soweit denkt man nicht. Wir haben gut zusammenge­arbeitet. Es gab dann schlechte Ergebnisse, also wurde er gefeuert, die Mechanisme­n sind in Russland dieselben. Als Nationaltr­ainer hat er es gewiss nicht leicht.

Standard: Inwieweit verfolgen Sie die österreich­ische Nationalma­nnschaft? Welche Perspektiv­en hat sie? Was ist von den Testspiele­n gegen Russland, Deutschlan­d und Brasilien zu erwarten? Stranzl: Ich kriege gar nichts mit, ich sehe keine Spiele, bin zu weit weg. Mir steht kein Urteil zu.

Standard: Ist Österreich am Mittwoch in Innsbruck gegen Russland sogar Favorit? Stranzl: Ich weiß es nicht, ich habe ja auch keine Spiele des russischen Nationalte­ams gesehen. Eine Aussage wäre vermessen.

MARTIN STRANZL (37) aus Güssing kickte für 1860 München, Stuttgart, Spartak Moskau und Gladbach.

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