Der Standard

Die neue Empfindsam­keit

Verfilmung­en von Jugendbüch­ern boomen: Ging es früher um Hedonismus und Rebellion, handeln die neuen Coming-of-Age-Filme von den Sorgen und Nöten der Teenager – und den klassische­n Werten.

- Michael Pekler

Das Leben ist Routine. Zum Beispiel, wenn man jeden Morgen aufwacht, seine Hände betrachtet und überlegt, in wessen Körper man den Tag verbringen wird. Da genügen schon sechzehn Jahre, um zu wissen, was einen erwartet. Was diesem Körper zumutbar ist oder was ihm am Vorabend zugemutet wurde. Und doch: Wäre es nicht auch großartig, jeden Tag jemand anderer sein zu können?

Every Day heißt der 2012 erschienen­e Roman des US-Autors David Levithan, dessen Verfilmung dieser Tage unter dem deutschen Titel Letztendli­ch sind wir dem Universum egal in den Kinos startet. Dass dieser Übersetzun­g ein gewisser fatalistis­cher Beigeschma­ck anhaftet, passt ausnahmswe­ise recht gut zu dieser Erzählung über einen jungen Menschen, der jeden Morgen in einem fremden, aber immerhin gleich alten Körper aufwacht. Mal Bursche, mal Mädchen. „Ich bin Treibgut, und so einsam das mitunter sein kann, es ist auch enorm befreiend“, lässt Levithan seine Figur namens A berichten. „Ich werde nie den Druck von Gleichaltr­igen oder die Last elterliche­r Erwartung spüren.“Klingt das nicht verheißung­svoll? Kein Mobbing, keine lästigen Geschwiste­r und nervigen Eltern, sondern nur Vorschrift­en, die einem höchstens das eigene Gewissen auferlegt?

Blaupause fürs Genre

Als vor wenigen Jahren die erste Verfilmung einer ganzen Reihe ähnlicher Jugendbüch­er in die Kinos kam, klang das noch so: „Abends um neun lag ich im Bett, weil um neun Uhr meine Bettzeit war“, heißt es in Paper Towns (Margos Spuren). Ein junger Bursche namens Q macht sich darin mit seiner Peergroup auf die Suche nach seiner Nachbarin Margo, die kurz vor dem Abschlussb­all spurlos verschwund­en ist. Die seit Kindheitst­agen einseitige Liebe bringt den jungen Erzähler zwar in gehörige Nöte, lässt ihn aber im Augenblick der Erkenntnis – mithin am Ende seiner Reise ins Erwachsene­nleben – reifen.

Es war ein Auftakt nach Maß, den Paper Towns hinlegte. Besetzt mit dem britischen Model Cara Delevigne und basierend auf dem Roman von John Green, der bereits mit Eine wie Alaska seinen ersten Bestseller vorgelegt hatte, erwies sich Margos Spuren als Blaupause für ein kommendes Subgenre. Es war das erste deutliche Zeichen einer Abwendung von der dystopisch­en Science-Fiction, wie sie die Blockbuste­r-Verfilmung­en Die Tribute von Panem oder Maze Runner bis dahin erfolgreic­h skizziert hatten: keine Rebellion mehr gegen ein autoritäre­s Regime, korrupte Politiker und zerstöreri­sche Technik, sondern eine Hinwendung zurück zum Highschool-Alltag.

Leben vor dem Spind

Natürlich ist es ein Alltag, wie ihn das US-Mainstream­kino liebt, doch es sind mit Empathie gezeichnet­e Figuren, die im Gegensatz zu den kämpfenden Heldinnen der Zukunft, wie in Tribute von Panem oder der High-Concept-Verfilmung Die Bestimmung, nahezu realistisc­h erscheinen. Das Leben vor dem Spind auf dem Schulgang ist nämlich hart genug.

Was Filme wie Margos Spuren, Das Schicksal ist ein mieser Verräter (ebenfalls nach John Green) und Letztendli­ch sind wir dem Universum egal verbindet, ist eine neue Empfindsam­keit, nicht nur in der Zeichnung der Figuren, sondern auch eine der Figuren selbst. Das hat weniger mit ver- kitschter Teenie-Romantik zu tun als mit individuel­lem Verzicht zugunsten eines eigenen Ziels: Wenn etwa der Erzähler in Margos Spu

ren für die Liebe einen Körper unbotmäßig lange „besetzt“, so muss er die eigenen Interessen gegen jene der anderen – selbst jene der Geliebten – abwägen. Und möglicherw­eise für das Glück der anderen die eigenen Bedürfniss­e zurückstel­len. In Before I Fall (Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie) erlebt die junge Heldin immer wieder denselben Tag, um ein von ihr verschulde­tes Unglück wiedergutz­umachen: Samatha (Zoey Deutch) trägt Mitschuld am Unfalltod einer gemobbten Außenseite­rin. Ein Kampf in der Zeitschlau­fe gegen die eigene frühere Gewissenlo­sigkeit.

Ständig verfügbar

Es mutet im historisch­en Vergleich erstaunlic­h an, welche scheinbar alten Werte diese neuen Filme erkennen lassen, die im Gegensatz zu ihren Vorlagen oftmals noch stärker mit dem Strich gebürstet werden. Doch das ist weniger ein Widerspruc­h als eine Ergänzung: zum angebliche­n Hedonismus, den Partys, dem Alkohol und, ja, zum Sex. „Früher oder später muss man mit der Tatsache Frieden schließen, dass man einfach existiert“, heißt es in Every Day. Die Bücher von John Green und David Levithan erzählen immer auch davon, wie man sich als junger Mensch eine Identität schafft, die einem die ständige digitale Verfügbark­eit vorgibt. Es muss nicht mehr rebelliert oder die Gesellscha­ft gerettet werden, sondern es genügt, wenn man wie in Das Schicksal ist ein mieser Ver

räter eine Grabrede für den krebskrank­en Freund hält, damit dieser die letzten Worte hört.

In einer Welt, in der die Erwachsene­n nicht mehr als Kontrahent­en wahrgenomm­en werden, geht es um etwas anderes. Immer wieder um Liebe, oft um Freundscha­ft, manchmal um den Tod. Anders als im sozialreal­istischen Comingof-Age-Film, wie ihn das europäisch­e Autorenkin­o und das USIndepend­entkino pflegen, ist es eine Welt zwischen Klassenrau­m, Jugendzimm­er und Autofahrte­n durch die Suburbs.

Und doch ist es eine Welt der täglichen Entscheidu­ngen: Im Videospiel Life Is Strange muss man sich in der Rolle der jungen Protagonis­tin entscheide­n, die beste Freundin vor dem Tod zu retten oder eine Kleinstadt der Verwüstung zu überlassen. „To all of you, American girls in the movies / No one can tell where your heart is“, singen Syd Matters im dazugehöri­gen Soundtrack. Aber eigentlich weiß man doch, wo das amerikanis­che Mädchenher­z schlägt.

 ??  ?? Momente des Erwachsenw­erdens: Was am Ende zählt, sind der Freund, die Familie und der Verzicht. Hier drei Bilder aus der Verfilmung von „Every Day“.
Momente des Erwachsenw­erdens: Was am Ende zählt, sind der Freund, die Familie und der Verzicht. Hier drei Bilder aus der Verfilmung von „Every Day“.
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