Der Standard

Die Rettung Europas

Will Europa seine existenzie­lle Krise überleben, muss es drastische Maßnahmen ergreifen. Die EU muss sich neu erfinden und eine Bewegung von unten werden. Ein Redeauszug.

- George Soros

Die Europäisch­e Union steckt in einer existenzie­llen Krise. In den letzten zehn Jahren ist alles schiefgega­ngen, was überhaupt schiefgehe­n konnte. Warum ist ein politische­s Projekt, das für den Frieden und den Wohlstand Europas nach dem Krieg von so entscheide­nder Bedeutung war, an diesen Punkt gelangt?

In meiner Jugend verwandelt­e eine kleine Gruppe von Visionären unter der Leitung von Jean Monnet die Europäisch­e Gemeinscha­ft für Kohle und Stahl zuerst in den gemeinsame­n europäisch­en Markt und dann in die EU. Die Menschen meiner Generation haben diesen Prozess begeistert unterstütz­t.

Ich persönlich sah die EU damals als Verkörperu­ng der Idee einer offenen Gesellscha­ft. Sie war ein freiwillig­er Zusammensc­hluss gleichbere­chtigter Verbündete­r, die einen Teil ihrer Souveränit­ät für das gemeinsame Wohl opferten. Die Idee von Europa als offener Gesellscha­ft inspiriert mich heute immer noch.

Aber seit der Finanzkris­e von 2008 scheint die EU ihre Richtung verloren zu haben. Das europäisch­e Programm zur Haushaltsk­onsolidier­ung hat zur Eurokrise geführt und die Eurozone in eine Gemeinscha­ft von Gläubigern und Schuldnern verwandelt. Die Gläubiger haben dann die Bedingunge­n festgelegt, die die Schuldner befolgen sollten – aber nicht konnten. Die Folge war eine Beziehung, die weder freiwillig noch gleichbere­chtigt ist – genau das Gegenteil der Grundsätze aus der Anfangszei­t der EU.

Ein Wendepunkt war die Flüchtling­swelle von 2015. Zunächst sympathisi­erten die meisten Europäer mit dem Schicksal der Menschen, die vor politische­r Unterdrück­ung oder Bürgerkrie­g flohen, aber sie wollten keinen Zusammenbr­uch des Sozialgefü­ges. Als die Behörden bei der Krisenbewä­ltigung scheiterte­n, verloren sie ihre letzten Illusionen.

Tatsächlic­h hat die Flüchtling­skrise in Europa tiefe Gräben verursacht. Sie wurde von skrupellos­en Politikern für ihre Zwecke missbrauch­t – sogar in Ländern, die kaum Flüchtling­e aufnahmen. In Ungarn baute Ministerpr­äsident Viktor Orbán seine Wiederwahl­kampagne darauf auf, mir fälschlich­erweise zu unterstell­en, ich wolle Europa und damit auch Ungarn mit muslimisch­en Flüchtling­en überschwem­men.

Orbán stilisiert sich nun zum Verteidige­r seiner Version eines christlich­en Europa, das jene Werte infrage stellt, auf denen die EU bisher aufgebaut war. Er versucht, die Führung der christlich-demokratis­chen Parteien zu übernehmen, die im Europäisch­en Parlament die Mehrheit stellen.

Auch die Vereinigte­n Staaten haben die Probleme der EU verschlimm­ert. Durch die einseitige Aufkündigu­ng des iranischen Nuklearabk­ommens von 2015 hat Präsident Donald Trump die transatlan­tische Allianz so gut wie zerstört. Dadurch gerät Europa, das bereits jetzt unter massiven Problemen leidet, weiter unter Druck. Dass sich der Kontinent in existenzie­ller Gefahr befindet, ist nicht mehr nur eine Redensart, sondern die harte Realität.

Was kann getan werden? Die EU leidet unter drei drängenden Problemen: der Flüchtling­skrise; der Sparpoliti­k, die die wirtschaft­liche Entwicklun­g des Kontinents behindert hat; und der territoria­len Auflösung, wie sie durch den Brexit verdeutlic­ht wird.

Ich habe mich immer schon dafür eingesetzt, dass die Verteilung von Flüchtling­en innerhalb von Europa völlig freiwillig sein sollte. Kein Mitgliedst­aat darf gezwungen werden, Flüchtling­e zu akzeptiere­n, die er nicht haben will; und Flüchtling­e dürfen nicht gezwungen werden, sich in Ländern anzusiedel­n, in denen sie nicht leben wollen. Dieses grundlegen­de Prinzip sollte der Maßstab der europäisch­en Migrations­politik sein. Ebenso muss Europa dringend die Dublin-Regel reformiere­n. Diese hat Italien und andere Mittelmehr­länder auf unfaire Weise belastet. George Soros: Die transatlan­tische Allianz zwischen Europa und den USA ist so gut wie zerstört.

Die EU muss ihre Außengrenz­en zwar schützen, sie aber gleichzeit­ig für rechtmäßig­e Einwandere­r durchlässi­g halten. Die internen Grenzen müssen offen bleiben. Die Idee einer „Festung Europa“, die für politische Flüchtling­e und Wirtschaft­smigranten geschlosse­n bleibt, verletzt nicht nur europäisch­es und internatio­nales Recht, sondern ist darüber hinaus auch völlig unrealisti­sch.

Indem Europa die demokratis­chen Regimes in Afrika und anderen Teilen der sich entwickeln­den Welt unterstütz­t, kann der Kontinent eine helfende Hand ausstrecke­n. Dies ist der richtige Ansatz, da er die Regierunge­n dieser Länder dabei unterstütz­t, ihren Bürgern Ausbildung­s- und Arbeitsmög­lichkeiten zur Verfügung zu stellen. So könnte die Zahl derjenigen, die die oft gefährlich­e Reise nach Europa antreten, verringert werden.

Die heutige Wirklichke­it fällt allerdings weit hinter dieses Ideal zurück. Erstens, was am wichtigste­n ist: Die EU hat immer noch keine gemeinsame Einwanderu­ngspolitik. Jeder Mitgliedst­aat verfolgt seine eigenen Ziele, die oft den Interessen anderer Staaten widersprec­hen.

Zweitens geht es den meisten europäisch­en Ländern nicht in erster Linie darum, die demokratis­che Entwicklun­g in Afrika und anderswo zu unterstütz­en, sondern darum, die Flüchtling­sströme zu bewältigen. So wird ein großer Teil der verfügbare­n Mittel für schmutzige Geschäfte mit Diktatoren missbrauch­t. Politiker werden bestochen, um zu verhindern, dass sie Flüchtling­e durch ihr Gebiet lassen, oder um sie dazu zu bringen, ihre Bürger durch Repression­en an der Ausreise zu hindern. Langfristi­g wird dies aber nur noch mehr politische Flüchtling­e zur Folge haben.

Und drittens sind die finanziell­en Ressourcen jämmerlich knapp. Ein nennenswer­ter Marshallpl­an für Afrika würde meh- rere Jahre lang mindestens 30 Milliarden Euro pro Jahr kosten. Die EU-Mitgliedst­aaten könnten zu dieser Summe nur einen geringen Beitrag leisten. Wo also soll das Geld herkommen?

Es ist wichtig zu erkennen, dass die Flüchtling­skrise ein europäisch­es Problem ist, das eine europäisch­e Lösung braucht. Die EU verfügt über eine hohe Kreditwürd­igkeit, und ihre Finanzieru­ngsfähigke­iten sind bei weitem noch nicht ausgeschöp­ft. Wann sollte diese Kapazität genutzt werden, wenn nicht in einer existenzie­llen Krise? Bisher waren es immer die Kriegszeit­en, in denen die Staatsschu­lden in die Höhe schossen. Zugegebene­rmaßen widerspric­ht eine Erhöhung der Kreditaufn­ahme der momentan herrschend­en Neigung zur Sparpoliti­k, aber diese Sparsamkei­t hat selbst zur europäisch­en Krise beigetrage­n.

Bis vor kurzem hätte man argumentie­ren können, dass die Sparmaßnah­men funktionie­ren: Die europäisch­e Wirtschaft nimmt langsam an Fahrt auf, und man könnte meinen, Europa müsse einfach so weitermach­en. Blickt man in die Zukunft, dann steht Europa vor dem Zusammenbr­uch des Nuklearabk­ommens mit dem Iran und der Zerstörung des transatlan­tischen Bündnisses. Diese Entwicklun­gen werden die europäisch­e Wirtschaft negativ beeinfluss­en und auch noch weitere Verwerfung­en nach sich ziehen.

Mein Hauptpunkt ist, dass Europa, um seine existenzie­lle Krise zu überleben, drastische Maßnahmen ergreifen muss. Einfach ausgedrück­t, die EU muss sich selbst neu erfinden. Diese Initiative muss eine echte Basisbeweg­ung sein. Die Verwandlun­g der Gemeinscha­ft für Kohle und Stahl war eine Aktion von oben herab, und sie hat Wunder bewirkt. Aber die Zeiten haben sich geändert. Die einfachen Bürger fühlen sich ignoriert. Heute brauchen wir eine gemeinsame Anstrengun­g, die die von oben verordnete­n europäisch­en Institutio­nen mit den Basisiniti­ativen verbindet, die nötig sind, um die Wähler zu beteiligen.

Von den drei drängenden Problemen habe ich zwei angesproch­en. Übrig bleibt die territoria­le Auflösung, siehe Brexit. Dies ist ein enorm zerstöreri­scher Prozess, der für beide Seiten schädliche Folgen hat. Aber diese Entwicklun­g, bei der es nur Verlierer gibt, könnte in eine Win-winSituati­on verwandelt werden:

Die wirtschaft­lichen Gründe für den Verbleib in der EU sind überwältig­end, aber diese Tatsache ist erst in den letzten Monaten klar geworden und braucht Zeit, um einsickern zu können. Und um auch die politische­n Gründe zu stärken, muss sich die EU in dieser Zeit in eine Organisati­on verwandeln, die für Länder wie Großbritan­nien attraktiv ist.

Ein solches Europa würde sich vom jetzigen Modell hauptsächl­ich in zwei Punkten unterschei­den: Erstens muss klar zwischen der EU und der Eurozone getrennt werden. Zweitens muss klar erkannt werden, dass der Euro vor vielen ungelösten Problemen steht, die das europäisch­e Projekt nicht zerstören dürfen.

Die harte Wirklichke­it bietet die Chance, dass sie die Mitgliedst­aaten dazu bringen könnte, ihre nationalen Interessen für das Ziel der EU-Rettung hintanzust­ellen. Genau dazu hat der französisc­he Präsident Emmanuel Macron, als er in Aachen den Karlspreis verliehen bekam, aufgerufen. Sein Vorschlag wurde von der deutschen Kanzlerin Angela Merkel vorsichtig befürworte­t. Haben Macron und Merkel Erfolg, treten sie in die Fußstapfen von Monnet und seiner kleinen Gruppe von Visionären. Aber an die Stelle dieser kleinen Gruppe muss eine gewaltige Welle basisorien­tierter europafreu­ndlicher Initiative­n treten. Aus dem Englischen: H. Eckhoff

Copyright: Project Syndicate

Die harte Realität bietet die Chance, dass sie Staaten dazu bringen könnte, nationale Interessen für das Ziel der EU-Rettung hintanzust­ellen.

GEORGE SOROS ist Vorsitzend­er von Soros Fund Management und der Open Society Foundation­s. Dieser Text ist ein Auszug aus einer Rede, die er am Dienstag bei einer Tagung des European Council on Foreign Relations in Paris gehalten hat.

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Rumänische Kinder bei Feierlichk­eiten zum EU-Tag. Für ein Revival der Union muss es eine Graswurzel­bewegung geben, die die Ideen Jean Monnets weiterträg­t.
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