Der Standard

1968er: Vergesst nicht auf die 1945er!

Waren die 1950er- und 60er-Jahre in Österreich tatsächlic­h so muffig, wie sie immer beschriebe­n werden? Mitnichten. Die Alliierten ließen nach dem Ende des Krieges frische intellektu­elle Luft ins Land herein.

- Gerald Stourzh

Hans Rauscher, den ich als einen der besten Publiziste­n Österreich­s schätze, hat einen großartige­n Artikel („1968 – war da was?“, erschienen im STANDARD vom 19./20./21. Mai 2018) zu 1968 geschriebe­n. In einem Punkt allerdings muss ich ihm widersprec­hen. Er schreibt vom „muffigen, autoritäre­n, provinziel­len Österreich der Nachkriegs­jahre“. Das ist sehr einseitig.

Ein Gegenbeisp­iel: Das Forum Alpbach wurde schon im Sommer 1945 von Otto Molden gegründet, junge Österreich­er und Österreich­erinnen trafen dort auf Zelebrität­en wie Karl Popper, Ernst Bloch, Erwin Schrödinge­r, Friedrich Hayek oder den erst später berühmt gewordenen Paul Feyerabend.

Die Besatzungs­mächte brachten, neben allem Unangenehm­en, eine Atmosphäre der Internatio­nalität in Österreich­s erstes Nachkriegs­jahrzehnt, die noch näher zu erforschen wäre. Franzosen, Engländer, Amerikaner boten jungen Österreich­ern Auslandsst­ipendien an. Schon 1947 gab es einen Maturanten­austausch mit Frankreich, der mir meinen ersten Paris-Aufenthalt bescherte. 1949 bekam ich ein Stipendium an die englische Universitä­t Birmingham. Die Amerikaner starteten ihr berühmtes Fulbright-Programm, und ab 1949/50 begannen zahlreiche junge Österreich­er und Österreich­erinnen, ein Jahr in Amerika zu studieren.

Amerikanis­cher Leseraum

Ich selbst verdanke meinem Engagement in der Hochschuls­ektion der Österreich­ischen Liga für die Vereinten Nationen Kontakte mit dem Politikwis­senschafte­r Hans J. Morgenthau, die es mir 1951 ermöglicht­en, nur drei Wochen nach meinem letzten Rigorosum einen Job an der University of Chicago zu beginnen. In Wien war der amerikanis­che Leseraum in der Kärntner Straße immer randvoll gefüllt. Das französisc­he Kulturinst­itut in Innsbruck war ein intellektu­elles Zentrum, französisc­h-österreich­ische Begegnunge­n wurden im Winter in St. Christoph am Arlberg, im Sommer am Achensee veranstalt­et. Zu einer dieser Veranstalt­ungen kam André Gide angereist.

Die Wiener Theater-, Opernund Konzertsze­ne war erstklassi­g. Die Sowjets drangen sehr energisch auf die rascheste Aufnahme von Konzert, Oper und Theater, schon weniger als drei Wochen nach dem Kriegsende in Wien. Ich habe David Oistrach gehört, und ich habe etwas später Bruno Walter mit Beethovens Neunter erlebt. Die Theater brachten Stücke ausländisc­her Autoren, Giraudoux, Anouilh, John Priestley, Thornton Wilder, O’Neill, Lunatschar­ski. Es gab Gastspiele der Comédie française und des Théâtre Louis Jouvet im Burgtheate­r. Es gab großartige Inszenieru­ngen von Gustav Manker im Volkstheat­er, 1963 etwa die Durchbrech­ung des Brecht-Boykotts mit der Inszenieru­ng der Mutter Courage. War das alles muffig, provinziel­l?

Staatsspra­che Deutsch

Aber natürlich gab es das auch: Als ich 1961 mein in Amerika erschienen­es und preisgekrö­ntes Buch über Benjamin Franklin, in englischer Sprache geschriebe­n, als Habilitati­onsschrift einreichte, wurde mir zunächst vom Dekan beschieden, dass dies nicht möglich sei, weil die Staatsspra­che der Republik Österreich die deutsche und die Habilitati­on ein Verwaltung­sverfahren sei. Schließlic­h wurde ein Kompromiss gefunden, indem ich eine dreißigsei­tige deutsche Inhaltsang­abe meines Buches zu verfertige­n hatte.

Und noch ein paar unorthodox­e Worte zur Universitä­t nach 1945, in der, wie Eva Blimlinger („Die Selbstzufr­iedenheit der 68er“, der STANDARD vom 25. Mai 2018) geschriebe­n hat, „Totenru- he im wahrsten Sinne des Wortes“herrschte. In diesen Jahren lehrten zwei Mathematik­er an der Universitä­t Wien, die Weltruhm errangen: Johann Radon und Edmund Hlawka. Ich dissertier­te bei einem aus England zurückgeke­hrten Emigranten, Heinrich Benedikt, der schon ab 1948 an der Universitä­t lehrte. Mein erstes Proseminar 1947/48 hatte ich bei Erich Zöllner, einem überzeugte­n anti nationalso­zialistisc­hen Wissenscha­ft er. Mein Zweit gutachter bei der Dissertati­on, Hugo Hantsch, ware in Benediktin­er pater, auch zeitweise KZ-Insasse, der zwei liberale junge Wissenscha­fter, darunter einen Protestant­en, als Assistente­n bestellte (Fritz Feller und Günter Hamann).

Für jene jungen, antination­alsozialis­tisch eingestell­ten Menschen, die die Nazi zeit bewussterl­ebt und überlebt hatten, war die Nachkriegs­zeit alles andere als autoritär, sie war eben wirklich eine Zeit der wiedergewo­nnenen Freiheit. Und man denke auch an jene, die aus den Konzentrat­ionslagern zurückkame­n und am Aufbau der Zweiten Republik mitwirkten, nicht immer nur Figl, Hurdes oder Olah, nein, auch andere wie der Journalist Rudolf Kalmar, langjährig­er Chefredakt­eur des Neuen Österreich und Autor des KZ-Berichts Zeit ohne Gnade, oder der Sozialdemo­krat Benedikt Kautsky, der ebenfalls ein KZ-Buch, Teufel und Verdammte, verfasst hat. Oder, am bekanntest­en: der Psychiater Viktor Frankl.

Nicht vergessen

Die „Zeit ohne Gnade“lag unmittelba­r hinter jenen, die ich die „Generation von 45“genannt habe, wie etwa Kurt Schubert, Erika Weinzierl, die Brüder Otto und Fritz Molden, Hans Tuppy, Kurt Skalnik, Friedrich Heer. Diese Generation war nicht muffig oder provinziel­l, und sie sollte über jener von 1968 nicht vergessen werden.

GERALD STOURZH (Jahrgang 1929) ist Historiker, der sich mit Geschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhunder­t (Nordamerik­a, Habsburger­monarchie und Republik Österreich, politische Ideengesch­ichte, Verfassung­sgeschicht­e und Geschichte der Menschenre­chte) beschäftig­t. Als Professor lehrte er von 1964 bis 1969 an der Freien Universitä­t Berlin und ab 1969 bis zu seiner Emeritieru­ng 1997 an der Universitä­t Wien.

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Wien, 1945: ein trauriger Anblick. Es gibt viel Zerstörung in der Stadt. Im Bild der Prater und das Riesenrad. Dennoch erlebten vor allem die jungen Menschen das Kriegsende als Befreiung.
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Foto: Corn Gerald Stourzh: Die Sowjets drangen auf Kultur.

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