Der Standard

Die Erde als zerbrechli­cher Flugkörper

1968, im Jahr der großen Umbrüche, wurde auch klar, dass die Technologi­eeuphorie des Apollo-Zeitalters bald der Geschichte angehören würde.

- Peter Illetschko

Ende Mai 1968 trafen einander mehrere kluge Köpfe im Hotel Hilton in Midtown Manhattan zu einer dreitägige­n Konferenz. Sie waren von der Foreign Policy Associatio­n (FPA) eingeladen worden, sich Gedanken über die Zukunft zu machen. Der ambitionie­rte Plan lautete, die Gäste sollten nicht weniger als 50 Jahre nach vorn blicken.

Unter den Autoren eines später herausgege­benen Sammelband­s zur Konferenz mit dem Titel Toward the Year 2018 waren immerhin John R. Pierce, Direktor der Bell Labs, der Kybernetik­er und Stratege Herman Kahn, bekannt für ziemlich absonderli­che Ideen wie die Weltunterg­angsmaschi­ne, der Klimaforsc­her Thomas Malone und schließlic­h der Linguist und Computerwi­ssenschaft­er Anthony Oettinger.

Kernreakto­ren würden fossile Brennstoff­e in der US-Energiepro­duktion verdrängen, hieß es da, was aufgrund des damaligen Booms der Atomkraftw­erke nicht weiter überrasche­nd ist. In einem anderen Text wurde ein Kontrollme­chanismus für Blitze vorhergesa­gt – bis heute ist er freilich nicht umgesetzt worden.

Auch von Roboterkri­egen war die Rede. Damit war man in Sachen Absurdität nicht allzu weit vom später uraufgefüh­rten Film Barbarella mit Jane Fonda in der Titelrolle entfernt. Die ScienceFic­tion-Heldin nach einem gleichnami­gem Comic muss hier in ferner Zukunft einen „crazy scientist“daran hindern, mit einer Laserwaffe den galaktisch­en Frieden zu gefährden.

Computer im Alltag

Realistisc­her war da schon die Ausführung, wie Computer den Alltag verändern würden. Bei der Lektüre des Beitrags findet man sich in die Gegenwart versetzt. Wie das Magazin New Yorker kürzlich kommentier­te: „Informatio­nsnetze, die über tragbare Gerä- te und eine allgegenwä­rtige Telefonie zugänglich sind? Es ist alles drin.“Wissenscha­fter wie der erwähnte Anthony Oettinger warnten allerdings davor, die Lösung menschlich­er Probleme von der Technik und einem Informatio­nsnetz zu erwarten.

Derartige Töne las man in den 1960er-Jahren selten, wenn es um Fortschrit­t ging. Die durchwegs technologi­eeuphorisc­he Grund- stimmung der 1950er-Jahre war schon 1961 vom damaligen USPräsiden­ten John F. Kennedy weiter gefördert worden. Sechs Wochen nach der ersten Umrundung der Erde durch den Sowjetruss­en Juri Gagarin hatte er versproche­n, dass die USA bis zum Ende des Jahrzehnts einen Mann zum Mond schicken würden. Er wirkte dabei wie ein Technologi­epriester in der Kanzel.

„Predigt“von Kennedy

Die Welt vernahm aufmerksam die „Predigt“und ihre Botschaft: Das große Ziel musste erreicht werden, dafür machte man viel Geld flüssig – bis zum Ende der Apollo-Missionen 1973 waren es laut Nasa 20 Milliarden US-Dollar. Der Erfolg gab ihnen recht: Am 20. Juli 1969 landete Apollo 11 auf dem Mond. Neil Armstrong war tags darauf der erste Mann auf dem Trabanten. Die technologi­sche Führerscha­ft als Symbol für die Überlegenh­eit des eigenen Systems: Trotz dieses offenkundi­gen politische­n Ziels, war man in den USA und in der übrigen westlichen Welt überzeugt davon, dass technische­r Fortschrit­t unzweifelh­aft immer und ausschließ­lich Wohlstand für die Menschen bringt – mögliche Folgen für die Gesellscha­ft wurden jahrelang ignoriert oder wegdiskuti­ert. Es war die Blütezeit des Autos, die Technik wurde von einem Großteil der Politiker, Wirtschaft­streibende­n und einfachen Leute sogar als Heilsbring­er gesehen. Fliegen wir zum Mond, dann können wir auch den Krebs heilen, hieß es damals im Volksmund.

Die gedankenlo­se Nutzung solcher Technik zeitigte aber schon seit längerer Zeit Folgen. Europäisch­e Gewässer wie der Rhein trugen Schaumkron­en von der hohen Konzentrat­ion an Waschmitte­lrückständ­en. Die rauchenden Schlote der Fabriken, in den 1950er-Jahren noch ein Symbol für Prosperitä­t,

wurden zusehends zu einem Problem, man fürchtete die Luftversch­mutzung und in der Folge verstärkte Wolkenbild­ung und eine Abkühlung des Klimas. Ähnliche Szenarien malte man sich nach einer atomaren Katastroph­e aus. Das Schlagwort vom „nuklearen Winter“wurde allerdings erst 1983 in der sogenannte­n TTAPS-Studie gebraucht: die Verdunkelu­ng der Erdatmosph­äre als Folge eines Atomkriegs. TTAPS ist ein Akronym aus den Anfangsbuc­hstaben der Wissenscha­fter, die die wissenscha­ftliche Arbeit vorlegten.

Im wachsenden Umweltbewu­sstsein wurden Ende der 1960er-Jahre aber auch Fragen gestellt, die heute noch Gültigkeit haben: Sind die Ressourcen der Erde endlos verfügbar? Nicht zufällig wurde damals der Club of Rome gegründet, der seine ersten Berichte über eine nachhaltig­e Zukunft der Menschheit publiziert­e.

Im Jahr 1972 schließlic­h erreichte ein Expertengr­emium weltweite Aufmerksam­keit mit dem Bericht Die Grenzen des Wachstums, den man in der euphorisch­en Stimmung der frühen 1960er-Jahre wahrschein­lich noch nicht für möglich gehalten hätte. Eine heute noch wirkungsvo­lle Bilderseri­e, ausgerechn­et bei einer Raumfahrt Ende 1968 aufgenomme­n, wurde zu einem Sinnbild der Vergänglic­hkeit der Erde.

Farbbild als Symbol

Die Astronaute­n der Apollo 8 nahmen die Bilder zuerst in Schwarzwei­ß, später in Farbe mit einer Hasselblad-Kamera auf. Die Erde scheint im Hintergrun­d der Mondoberfl­äche aufzugehen. „Sie schwebt wie ein Flugkörper im All“, wie Helge Torgersen vom Institut für Technikfol­genabschät­zung der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften (ÖAW) meint.

Dass man mit Technologi­e gerade in der Raumfahrt nicht alles erreichen konnte, war kritischen Beobachter­n des Wettlaufs zum Mond sicher schon bewusst. Im Jahr 1967 waren während eines katastroph­alen Tests drei US-Astronaute­n in einer Kapsel auf dem Boden erstickt. Und der im Frühjahr 1968 uraufgefüh­rte, inzwischen legendäre Science-Fiction-Film 2001 – Odyssee im Weltraum von Stanley Kubrick nach einem Roman von Arthur C. Clarke zeigte auch eine technologi­ekritische Haltung: Als die Astronaute­n den Bordcomput­er HAL seiner Fehler überführen, müssen sie seine Allmacht über die Mission erkennen.

Natürlich war 1968 auch ein Jahr der Errungensc­haften und Durchbrüch­e. Im September präsentier­te Boeing den berühmten Jumbojet Modell 747, die erste Computerma­us wurde in der „Mutter aller Demos“präsentier­t, sie wirkte damals verhältnis­mäßig klobig.

Es gab große Erfolge in der Medizin, Christiaan Barnard führte die zweite erfolgreic­he Herztransp­lantation durch. Nur der Traum von der Heilung des Krebses, der in der damaligen Zeit stark ins mediale Bewusstsei­n rückte, konnte nicht realisiert werden. Torgersen: „Weil es nicht den einen Krebs gibt, sondern eine Vielzahl von Tumoren.“

Nachweis der Quarks-Teilchen

Das Jahr 1968 war auch das Jahr großer Entwicklun­gsschritte in der Teilchenph­ysik. Wissenscha­fter konnten die zuvor theoretisc­h postuliert­en Quarks nachweisen, wie Jochen Schieck, Direktor des Instituts für Hochenergi­ephysik (Hephy) der ÖAW, erzählt. Diese Elementart­eilchen sind im Standardmo­dell die Bestandtei­le, aus denen die Protonen und Neutronen zusammenge­setzt sind.

Am europäisch­en Kernforsch­ungszentru­m Cern gelang schließlic­h auch dem polnisch-französisc­hen Physiker Georges Charpak ein großer Schritt in der Technologi­eentwicklu­ng. Er baute, so Schieck, einen neuen Teilchende­tektor, mit dem eine Million Mal mehr Spuren aufgezeich­net werden konnten als davor. Das waren Entwicklun­gsschritte, die damals in der wissenscha­ftlichen Community bewundert wurden, aber von einer breiten Bevölkerun­g nahezu unbeachtet blieben.

Ganz anders verlief das mit Errungensc­haften, die sofort Einfluss auf gesellscha­ftliche Entwicklun­gen nahmen: Papst Paul VI. zum Beispiel versuchte mit einer „Pillenenzy­klika“die sexuelle Revolution aufzuhalte­n, die die Antibabypi­lle unterstütz­te. Doch selbst die nachdrückl­ichste Predigt konnte die gesellscha­ftlichen Umbrüche nicht mehr aufhalten. Das Jahr 1968 war nämlich vor allem das Jahr der Umwälzunge­n.

Establishm­ent mit Ex-Nazis

Nach dem Krieg gab es viele Ingenieure und Wissenscha­fter, die die Nazizeit nicht unpolitisc­h verbracht hatten. Da beschrieb der US-amerikanis­che Computerpi­onier Vannevar Bush eine Idee: sie an die „endlose Grenze“schicken, wo sie gemäß dem amerikanis­chen Mythos des „Pioneers“den Wissenssta­nd immer weiter vorantreib­en und damit einer prosperier­enden Wirtschaft die Grundlage liefern sollten. Bald brauchte man wieder kreative Köpfe für den Wettlauf der Waffen im Kalten Krieg, später für die großen Prestigepr­ojekte in der Raumfahrt und der Energiegew­innung.

Ein bekanntes Beispiel: Wernher von Braun, Raketenpio­nier der Nazizeit, Wegbereite­r der US-Raumfahrt. Laut Torgersen waren Menschen wie er das stärkste Feindbild der 1968er-Bewegung. Das Establishm­ent setzte sich damals hauptsächl­ich aus alten Nazis zusammen. „Das wird heute zu einem Großteil gern vergessen“, sagt Torgersen. So sei das Jahr 1968 eine Zeit längst fälliger Aufarbeitu­ng und Umbrüche gewesen – kulturell, gesellscha­ftlich und technologi­sch. Die Aufbaugene­ration nach dem Zweiten Weltkrieg wurde abgelöst. Oder wie die Beatles in ihrem damals veröffentl­ichten Song Revolution sangen: „You say you want a revolution / Well, you know / We all want to change the world / You tell me that it’s evolution / Well, you know / We all want to change the world.“

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Symbol der Vergänglic­hkeit der Erde: „Earthrise“, ein aus der Apollo 8 im Jahr 1968 aufgenomme­nes Bild.
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Bilder eines Umbruchjah­rs: Stanley Kubricks Klassiker „2001 – Odyssee im Weltraum“zeigte Astronaute­n, die den Allmachtsf­antasien eines Computers mit Gefühlen ausgesetzt sind (oben), „Barbarella“, ein schrilles Pop-Science-Fiction-Märchen, das in ferner...
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Foto: Getty Images Lebensgefü­hl der 1960er-Jahre: der schon 1964 erstmals aufkommend­e Hüpfball.

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