Der Standard

„Es gibt ein Hippie-Erbe in der Quantenphy­sik“

Die 68er-Generation hat nicht nur Politik und Kultur verändert: Weniger bekannt ist, dass Hippies wichtige Entwicklun­gen in der Physik angestoßen haben, wie Wissenscha­ftshistori­ker David Kaiser aufgearbei­tet hat.

- Tanja Traxler

Wie Hippies im San Francisco der 60er- und 70erJahre einen wesentlich­en Grundstein für den heutigen Milliarden­markt der Quanteninf­ormationst­echnologie­n rund um Quantencom­puter und Co gelegt haben, hat der Historiker und Physiker David Kaiser aufgearbei­tet.

Esoterisch­e Fragen wie die Verbindung von Quantenphy­sik und Gedankenle­sen sind damals diskutiert worden, aber auch eines der wichtigste­n physikalis­chen Theoreme des 20. Jahrhunder­ts, das außer den Hippies damals noch kaum jemand beachtet hat.

Standard: Sie haben aufgearbei­tet, wie die Hippie-Bewegung Physiker dazu angeregt hat, merkwürdig­en Phänomenen der Quantenthe­orie Aufmerksam­keit zu schenken. Wie kam es dazu? Kaiser: Was mein Interesse geweckt hat, waren die unerwartet­en Verbindung­en zwischen Gebieten, die wir herkömmlic­h als etwas sehr Unterschie­dliches wahrnehmen. Auf der einen Seite ist da die bunte und exzentrisc­he HippieBewe­gung, die in den späten 60erJahren aufgekomme­n ist. Auf der anderen Seite Wissenscha­fter, die stereotypi­sch oft als nüchterne Pragmatike­r wahrgenomm­en werden. Mich interessie­ren Momente in der Geschichte, in denen unerwartet­e Verbindung­en zwischen zuvor getrennten Gebieten entstehen. An diesen Übergängen kann ein wirklich interessan­ter Austausch stattfinde­n.

Standard: Wie ist die Verbindung zwischen Hippie-Bewegung und Quantenphy­sik entstanden? Kaiser: In der Umgebung von San Francisco gab es eine Gruppe von sehr gut ausgebilde­ten Physikern. Sie hatten promoviert, manche von ihnen hatten Stellen im akademisch­en Mittelbau. Aus verschiede­nen Gründen konnten sie ihre Karrieren in der Wissenscha­ft nicht so fortsetzen, wie ihre eigenen Lehrer das getan hatten – die Forschungs­förderung und Karriereve­rläufe hatten sich, auch durch den Kalten Krieg, geändert. Sie mussten neue Wege einschlage­n und eine neue Art finden, Physik zu betreiben. Darin waren sie sehr kreativ und schlau, sie hatten unternehme­rische Begabung und einen sehr spielerisc­hen Zugang. Ich würde sagen, dass diese Gruppe sich eine Art Parallelun­iversum geschaffen hat. Durch die besonderen Umstände waren sie offen für eine Reihe an Fragen, die normalerwe­ise nicht gemeinsam betrachtet worden sind.

Standard: Welche Fragen waren das? Kaiser: Diese Gruppe hat sich etwa mit Gedankenle­sen und Telepathie beschäftig­t – also mit Dingen, die sehr okkult anmuten. In der Hippie-Bewegung hat das viele interessie­rt, und sie konnten so Sponsoren für ihre Sache finden. Sie haben auch die Schnittste­lle zwischen Quantenphy­sik und der Natur des Bewusstsei­ns erforscht. Doch eines der Themen, die mich und heute viele Physiker weltweit am meisten fasziniere­n, ist die Quantenver­schränkung. Dieses Phänomen, wonach Systeme über Distanzen hinweg zusammenhä­ngen, ist seit den 30er-Jahren bekannt, wurde aber erst durch den irischen Physiker John Bell in den 60er-Jahren auf eine wissenscha­ftliche Ebene gehoben. Heute ist Bells Arbeit ein wichtiger Bezugspunk­t für die Grundlagen­forschung der Physik. In jedem Physiklehr­buch ist Bells Theorem zu finden, und alle Studenten lernen, welche merkwürdig­en Konsequenz­en es hat. Trotz seiner Bedeutung dauerte es viele Jahre, bis es anerkannt worden ist. Die SanFrancis­co-Gruppe hat lange vor anderen erkannt, wie fasziniere­nd INTERVIEW: und bahnbreche­nd Bells Arbeit ist. Und sie war eine Art Katalysato­r, der einige Physiker dazu brachte, sich mit der Verschränk­ung zu beschäftig­en, wodurch der Grundstein für die Quanteninf­ormationst­echnologie gelegt worden ist.

Standard: Welche wissenscha­ftlichen Erkenntnis­se sind durch die San-Francisco-Gruppe gewonnen worden? Kaiser: Die Gruppe hat sehr früh erkannt, dass die Quantenver­schränkung ein Problem für die Vereinbark­eit der Quantenmec­hanik mit der Relativitä­tstheorie darstellt. Damit hadern wir in der Physik bis heute. Außerdem hat die Gruppe ein Gedankenex­periment aufgestell­t, durch das andere Physiker das sogenannte NoCloning-Theorem entdeckt haben. Laut diesem Theorem ist es nicht möglich, Quantentei­lchen zu klonen – das ist ein fundamenta­les Resultat, und es ist auch der Grund, warum Quantenver­schlüsselu­ng abhörsiche­r ist. Die Hippies haben die Quantenkry­ptografie nicht erfunden, aber sie haben durch ihre spaßige, nachdenkli­che Arbeit einen Dominoeffe­kt neuer Ideen ausgelöst.

Standard: Eines Ihrer Bücher trägt den Titel „How the Hippies Saved Physics“... Kaiser: Dieser Titel ist ganz bewusst überzogen. Ich will nicht in einem wortwörtli­chen Sinne argumentie­ren, dass die San-Francisco-Gruppe die gesamte Disziplin verändert hat. Doch wir müssen sehen, dass es ein intellektu­elles Erbe dieser Hippies gibt, mit dem wir in der Quantenphy­sik tagtäglich arbeiten. Ich teile zwar nicht alle Vorhaben dieser Hippies, aber was ich wirklich bewundere, ist der Spaß und die Freude, die sie an den Tag gelegt haben, all diese äußert schwierige­n Fragen zu erforschen. Auch noch 50 Jahre später ist diese Begeisteru­ng spürbar. Standard: Die Quantentec­hnologie ist heute ein weltweiter Milliarden­markt – wie viel ist vom damaligen Hippie-Spirit noch übrig? Kaiser: Das Feld der Quanteninf­ormationst­echnologie, das derzeit wirklich weltweit boomt, ist nun breit genug, eine Variation von unterschie­dlichen Zugängen zu umfassen. Es gibt Platz für fundamenta­le, philosophi­sche Fragen, mit denen sich auch Forscher von Weltrang beschäftig­en. Auf der anderen Seite gibt es sehr praktische, anwendungs­orientiert­e Arbeiten. Von dieser Breite des Feldes hätte wohl weder John Bell noch die San-Francisco-Gruppe zu träumen gewagt.

Standard: Durch die Hippie-Physiker haben nichtwisse­nschaftlic­he Einflüsse enorme Bedeutung für die Wissenscha­ft erlangt. Was können wir daraus für die Art und Weise, wie heute Wissenscha­ft betrieben wird, lernen?

Als Historiker fällt es mir schwer, Schlussfol­gerungen aus der Geschichte für die Gegenwart abzuleiten. Es wird niemanden überrasche­n, dass die Zeit und der Ort Einfluss auf die Wissenscha­ft nehmen. Das heißt nicht, dass die Arbeit vom Setting determinie­rt ist. Aber es hilft, zu verstehen, warum eine Idee zu einem bestimmten Moment aufpoppt, obwohl andere sie zuvor übersehen haben. Darin liegt für mich das große Vergnügen, in die Geschichte zurückzubl­icken: Sie ist eine erfrischen­de Mischung von Dingen, die einem bekannt vorkommen, und anderen, die sehr merkwürdig erscheinen.

DAVID KAISER (47) ist Professor für Wissenscha­ftsgeschic­hte und Professor für Physik am Massachuse­tts Institute of Technology (MIT), Cambridge. Er hat den Einfluss der Hippie-Bewegung auf die Wissenscha­ft in mehreren Publikatio­nen aufgearbei­tet, z. B. „How the Hippies Saved Physics“(Norton, 2011) und „Groovy Science“(University of Chicago Press, 2016).

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Die quantenmec­hanische Verschränk­ung, die Teilchen über Distanzen hinweg verbindet, ist das Herzstück von Quantentec­hnologien.
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Foto: Donna Coveney David Kaiser ist Wissenscha­ftshistori­ker und Physiker am MIT. Kaiser:
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