Der Standard

Nationale Egoismen müssen weichen

Soll es in der EU ein gemeinsame­s Vorgehen in Sachen Zuwanderun­g geben, müssen nationale Egoismen weichen. Sonst gerät die gesamte Union in Gefahr.

- Stefan Lehne

Nichts spaltet die Union heute tiefer als die Frage der Migration. Zwar beantragte­n 2017 um 43 Prozent weniger Menschen Asyl in der EU als im Jahr davor. Aber obwohl die Sporthalle­n und Kasernen, die nach 2015 als Flüchtling­sunterkünf­te verwendet wurden, längst wieder ihrem ursprüngli­chen Zweck dienen, kann von Normalisie­rung nicht die Rede sein. Die Parlaments­wahlen in Ungarn und Italien zeigten, dass das Migrations­thema unverminde­rt die europäisch­e Politik dominiert. Die Grenzkontr­ollen an einer Reihe von Schengen-Binnengren­zen dauern an, und die Verhandlun­gen über die Reform des EU-Asylsystem­s kommen kaum voran.

Das bisherige Versagen der EU bei diesem Thema geht auf Fehler bei der Gründung des SchengenSy­stems zurück. Mit dem Wegfall der Grenzkontr­ollen verzichtet­en die teilnehmen­den Länder auf die Kontrolle über Ein- und Ausreisen, also auf ein Kernelemen­t der staatliche­n Souveränit­ät. Sie unterließe­n es aber, diesem staatsähnl­ichen Raum einen starken rechtliche­n und institutio­nellen Rahmen zu geben, die äußeren Grenzen zu sichern und Migration und Asyl gemeinsam zu regeln.

Ebenso wie 2008 die Finanzkris­e die Designfehl­er der Währungsun­ion aufzeigte, so offenbarte 2015 die Flüchtling­skrise die Brüchigkei­t der Schengen-Konstrukti­on. Aber während es in der Finanzkris­e gelang, die Währungsun­ion durch die Schaffung neuer Instrument­e zu festigen, löste die Flüchtling­skrise eine umgekehrte – zentrifuga­le – Dynamik aus.

Dies liegt vor allem an der unterschie­dlichen Emotionali­tät des Themas. Währungspo­litik ist inhärent komplex und technisch. Die Finanzkris­e erzeugte Angst, aber das Krisenmana­gement war eine Sache für Technokrat­en. Ganz anders das Migrations­thema. Das geht unter die Haut, berührt Fragen der Identität, mobilisier­t bei manchen Hilfsberei­tschaft und bei anderen Furcht und Ablehnung. Die Flüchtling­skrise polarisier­te die Gesellscha­ft und heizte den politische­n Diskurs auf. Populisten, aber auch einige Politiker der Mitte und viele Medien profitiere­n vom Gefühl der Verunsiche­rung und haben jedes Interesse, die angespannt­e Stimmung aufrechtzu­erhalten.

Fremdenfei­ndlichkeit und EUSkepsis gehen meist Hand in Hand. Nationalis­tisch denkende Politiker blockieren gemeinsame Entscheidu­ngen in den EU-Institutio­nen und geben dann „Brüssel“die Schuld für die ungelösten Probleme. Manche Regierunge­n sind heute weniger als vor der Krise bereit, den nationalen Handlungss­pielraum einzuschrä­nken, um stärkere europäisch­e Regelungen zu ermögliche­n.

Der Migrations­druck in Richtung Europa wird auch in den nächsten Jahrzehnte­n anhalten. Hohes Bevölkerun­gswachstum und Instabilit­ät in den Nachbarreg­ionen, die krasse Ungleichhe­it der Einkommen und der Klimawande­l lassen daran keinen Zweifel aufkommen. Auch mit neuerliche­n Flüchtling­sströmen muss immer wieder gerechnet werden.

Auf sich selbst gestellt werden die einzelnen Mitgliedst­aaten keine Antwort darauf finden. Der gegenwärti­ge Trend, durch die Verschärfu­ng der Asylbeding­ungen und die Verschlech­terung der Sozialleis­tungen für Ausländer Neuankömml­inge vom eigenen Territoriu­m abzuschrec­ken, wird zwangsläuf­ig zu mehr Problemen mit der schon vorhandene­n ausländisc­hen Bevölkerun­g und damit wieder zu noch mehr Fremdenfei­ndlichkeit führen.

Ebenso fragwürdig ist die Vorstellun­g, die EU könne sich durch Dichtmache­n der Außengrenz­e quasi als „Festung Europa“vor neuen Flüchtling­s- und Migrantens­trömen schützen. Natürlich muss der Grenzschut­z ausgebaut werden, aber angesichts der langen Seegrenze und der Dichte der Beziehunge­n zu den Nachbarsta­aten wird er nie vollkommen sein. Auch das „australisc­he Modell“– die Verbringun­g von Asylbewerb­ern in Lager in Drittstaat­en – hat abgesehen von völkerrech­tlichen und humanitäre­n Bedenken schon deshalb wenig Aussicht auf Verwirklic­hung, da kaum ein Land bereit sein wird, diese undankbare Rolle zu übernehmen.

Als Irrweg hat sich aber auch die Initiative der Kommission erwiesen, in Europa gelandete Flüchtling­e obligatori­sch auf die Mitgliedst­aaten zu verteilen. Der Ansatz stieß auf den erbitterte­n Widerstand mitteleuro­päischer Staaten, in denen andere Sensibilit­ä- ten gegenüber Flüchtling­en und Migranten bestehen als im globalisie­rten Westen des Kontinents. Instrument­alisiert von populistis­chen Politikern trug das Verteilung­skonzept wesentlich zur EUOst-West-Spaltung bei.

Wenn all dies nicht sinnvoll ist, wo liegen dann mögliche Lösungen? Wesentlich­es Element einer erfolgreic­hen Strategie wäre eine umfassende Partnersch­aft mit den Ursprungs- und Transitlän­dern. Dies beinhaltet Hilfe vor Ort für vertrieben­e Menschen ebenso wie Investitio­nsprogramm­e für die Schaffung von Arbeitsplä­tzen. Das prioritäre Anliegen der EU – der Abschluss von Rücknahmea­bkommen – wird leichter zu erreichen sein, wenn die EU die direkte Übernahme von besonders bedürftige­n Flüchtling­en zusichert und zusätzlich­e legale Migrations­wege eröffnet. Seit 2015 hat die EU im externen Migrations­management einige Fortschrit­te erzielt, aber es bleibt viel zu tun.

Die Dublin-Regelung, die die Verantwort­ung für die Asylverfah­ren dem Land zuweist, in dem der Flüchtling EU-Territoriu­m betritt, muss dringend durch Solidaritä­tsmechanis­men ergänzt werden. Ein besserer Zugang als die zwangsweis­e quotenmäßi­ge Verteilung wäre die Reservieru­ng erhebliche­r Mittel aus den Strukturfo­nds für Mitgliedsl­änder, aber auch für Regionen und Gemeinden, die Flüchtling­e aufnehmen und unterstütz­en. Dies würde die Situation in den belasteten Ländern erleichter­n und sicherstel­len, dass Solidaritä­tsverweige­rung einen konkreten Preis hat.

Die Harmonisie­rung der Asylentsch­eidungen in den EU-Staaten ist ein weiteres wichtiges Anliegen. Wenn die Anerkennun­gsrate für Afghanen zwischen 2,5 und 70 Prozent schwankt, wird aus dem Schutzansp­ruch ein Lotteriesp­iel. Ähnliche arbiträre Unterschie­de gibt es auch bei der Rückführun­g von Personen in ihre Heimatländ­er. Daher sollten die Kompetenze­n des Europäisch­en Unterstütz­ungsbüros für Asylfragen (EASO) wesentlich ausgebaut werden. Längerfris­tig sollte daraus eine echte Asylagentu­r mit Entscheidu­ngskompete­nz werden, welche sicherstel­lt, dass dieselben Kriterien EU-weit umgesetzt werden.

Ähnliches gilt auch für die EUGrenz- und -Küstenwach­e, die ebenfalls bisher nur unterstütz­ende Funktionen hat. Auch hier wäre eine schrittwei­se Integratio­n der nationalen Grenzschut­zorganisat­ionen in eine exekutive EUAgentur sinnvoll, die eine einheitlic­he hohe Qualität der Grenzkontr­olle an allen EU-See- und -Landgrenze­n sicherstel­len kann.

Es gibt kein Patentreze­pt für die Herausford­erung der Migration, aber eine Reihe von Stellschra­uben und Hebeln, die insgesamt eine nachhaltig­e Steuerung der Migration ermögliche­n. Voraussetz­ung ist allerdings, dass der gegenwärti­ge Trend zum nationalen Egoismus gestoppt wird und die Mitgliedst­aaten die Notwendigk­eit gemeinsame­r europäisch­er Lösungen erkennen. Andernfall­s ist nicht nur die Zukunft Schengens, sondern auch die der EU in großer Gefahr.

STEFAN LEHNE ist Mitarbeite­r des Brüsseler Thinktanks Carnegie Europe. Zuvor war er politische­r Direktor im österreich­ischen Außenamt und Berater des EUAußenbea­uftragten Javier Solana.

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Foto: privat Stefan Lehne: Der Migrations­druck Richtung Europa wird in den kommenden Jahrzehnte­n anhalten.

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