Der Standard

Kleine Menschen ganz groß

Die große französisc­he Filmemache­rin Agnès Varda ist 90 Jahre alt. Für ihren jüngsten Film ist sie mit dem Street-Art-Künstler JR quer durch Frankreich gefahren. Die Doku gibt Menschen eine Stimme, die sonst selten gehört werden.

- Karl Gedlicka

berall, wo die kleine, quirlige Frau mit der braun-weißen Helmfrisur und der Mann mit Hut und Sonnenbril­le auftauchen, kommen Menschen zusammen. Die überlebens­großen Porträtfot­os, die sie auf Häuserwänd­en, Bunkern, Scheunen und Containern affichiere­n, sind nicht nur Anlass, Geschichte­n von früher zu teilen, sie liefern auch Anknüpfung­spunkte fürs Heute. Für kluge Bemerkunge­n zum Wesen der Kunst ebenso wie zu Einsichten bezüglich der Frage, was Ziegen ohne Hörner mit der Marktwirts­chaft zu tun haben.

Zu Wort kommen nicht Experten, sondern Menschen, die sonst wenig gehört werden: unter anderem Hafenarbei­ter, ein Lebensküns­tler ohne geregelte Arbeit, ein Bauer, der im Alleingang 800 Hektar Land bewirtscha­ftet, die letzte Bewohnerin einer aufgelasse­nen Bergbausie­dlung. Sie alle werden nicht einfach interviewt, sondern es werden Situatione­n geschaffen, in denen sie als Akteure auftreten.

Großmutter der Nouvelle Vague

Die im Vorjahr für einen Oscar nominierte Dokumentat­ion Augenblick­e: Gesichter einer Reise / Visage Villages ist die erste Gemeinscha­ftsarbeit von Agnès Varda. Die oft als „Großmutter der Nouvelle Vague“bezeichnet­e Filmemache­rin, die am Mittwoch 90 wurde, ist dafür mit dem 35-jährigen, für sein Inside Out- Projekt bekannten Fotografen und Street-Art-Künstler JR quer durch die französisc­he Provinz gefahren. Was eine populistis­che Angelegenh­eit hätte werden können, ist frei von Herablassu­ng, dafür voll überrasche­nder, im Vorbeigehe­n servierter Einsichten. Unsere Vorurteile sind ständig auf dem Prüfstand.

Als Varda und JR die streikende­n Dockarbeit­er von Le Havre besuchen, würdigen sie jene, die in deren Männerwelt sonst keinen Platz haben: Sie inszeniere­n die Frauen der Arbeiter als überlebens­große Totemfigur­en, geben ihnen Gelegenhei­t, ihre Gedanken auf den Punkt zu bringen.

Tiefgehend­e Empathie grundiert nicht nur Augenblick­e, sie zeichnet so gut wie alle Filme Vardas aus. Oft waren es Frauen, die von der Feministin ins Zentrum gerückt wurden. In ihrem Spielfilmd­ebüt von 1961, Cleo – Mittwoch zwischen 5 und 7, warten wir mit einer jungen Sängerin, die glaubt, an Krebs erkrankt zu sein, auf die Diagnose. Die sich trennenden und überkreuze­nden Wege zweier unterschie­dlicher Frauen bringt uns Varda in Die eine singt, die andere nicht (1977) näher. Nüchtern und berührend der Blick, den sie 1985 in Vogelfrei auf eine von Sandrine Bonnaire verkörpert­e Vagabundin wirft.

Karrierebe­ginn als Fotografin

Varda begann ihre Karriere als Fotografin. Einem Foto, das sie in den 50er-Jahren von einem ihrer Künstlerge­fährten gemacht hat, begegnen wir in Augenblick­e riesenhaft vergrößert. Affichiert auf einen herunterge­stürzten Bunker am Strand wirkt Guy Bourdin, der 1991 verstorben­e Revolution­är der Modefotogr­afie, als ruhe er in einer Wiege – bis die Flut das Bild hinwegwäsc­ht.

Wie schon die autobiogra­fische Doku Die Strände von Agnès (2008) ist auch Augenblick­e eine komplexe Collage, die en passant das Flüchtige der Kunst ebenso reflektier­t wie die eigene Sterblichk­eit. Was den Film so vergnüglic­h macht, ist, dass Varda an keiner Stelle ihre Leichtfüßi­gkeit, ihren entwaffnen­den Humor einbüßt.

Kurz aus der Fassung scheint sie nur zum Ende des Films eine Finte des alten Nouvelle-Vague-Gefährten Jean-Luc Godard zu bringen. Plötzlich steht die Erinnerung an Vardas 1990 verstorben­en Ehemann, den Regisseur Jacques Demy (Die Regenschir­me von Cherbourg), im Raum. Es wäre nicht Varda, deren Filme immer auch eine Reflexion auf das Kino sind, wenn sie nicht auch darauf eine passende filmische Antwort finden würde. Das Lächeln, das einem Augenblick­e ins Gesicht zaubert, hält jedenfalls noch lange nach Verlassen des Kinos an.

 ??  ?? Stoßen mit überlebens­großen Porträtfot­os überrasche­nde Diskurse an: Filmemache­rin Agnès Varda und Street-Art-Künstler JR in „Augenblick­e: Gesichter einer Reise“.
Stoßen mit überlebens­großen Porträtfot­os überrasche­nde Diskurse an: Filmemache­rin Agnès Varda und Street-Art-Künstler JR in „Augenblick­e: Gesichter einer Reise“.

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