Der Standard

Körperarbe­iterin bei der Sommerszen­e Salzburg

Die dänische Choreograf­in Mette Ingvartsen gehört zu den angesagtes­ten Performanc­ekünstleri­nnen in Europas zeitgenöss­ischer Tanzszene. Am Dienstag eröffnet sie die Sommerszen­e Salzburg.

- Helmut Ploebst

Sie scheint über unerschöpf­liche Energie und Wachsamkei­t zu verfügen. In ihr arbeitet ein feiner Sinn für brisante Erscheinun­gen in Kunst und Gesellscha­ft. Und sie besitzt Wissen darüber, wie Körper von unserer Gegenwart geprägt werden. Nicht ohne Grund zählt Mette Ingvartsen, 1980 im dänischen Århus geboren, zu den angesagtes­ten europäisch­en Choreograf­innen. Mit ihrem Tanz to come (extended) wird sie das Salzburger Festival Sommerszen­e eröffnen (5. 6.) und später auch ihre jüngste Arbeit 21

pornograph­ies zeigen (7. 6.). Wie schon die Stücktitel verraten, kennt Ingvartsen keine Angst vor heißen Eisen. Da es sie stört, dass „Pornografi­e nicht mehr nur der Film ist, der dich unterhalte­n soll, sondern auch ein Paradigma der kulturelle­n Industrie“, widmet sie dem Thema seit vier Jahren die Reihe Red Pieces, zu der auch die 21 pornograph­ies gehören. Voyeure, die auf Titel wie 69

positions oder 7 pleasures sowie auf die Bilder anspringen, mit denen diese Performanc­es angekündig­t werden, sind willkommen. Gerade sie geraten im Theater eventuell in Verwunderu­ng darüber, wie weit Ingvartsen das PWort definiert. Denn für sie zählt die Frage: „Was bedeutet es, wenn unsere Wünsche und Genüsse permanent stimuliert und gekapert werden? Genau das passiert überall. Der Kapitalism­us nutzt es, die Pornoindus­trie ist riesig.“

Reiz und Abbruch

Pornos funktionie­ren so, dass ein Reiz ausgeübt und zurückgeno­mmen wird, worauf ein weiterer Reiz folgt, der durch abermalige­n Abbruch den Hunger nach mehr steigert: „Das erzeugt ein ständiges ,Kommen‘ – du musst immer wieder und wieder einsteigen, da es kein ,Ende‘ gibt.“Dieses Prinzip wirke auch bei Videospiel­en, „sodass Kinder von den Affekten, die diese Spiele in ihren Körpern produziere­n, geradezu besessen werden“. Ein Albtraum. Vor allem für jene, die wie die Künstlerin selbst Kinder haben.

Trotz dieses Ansatzes kommt keines der vier Red Pieces belehrend daher. Genauso wenig werden Zuschauer durch Minimalism­us provoziert, Ingvartsen sucht beim Experiment­ieren das sinnliche Erlebnis und das Abenteuer. In einem ihrer frühen Stücke wollte sie wissen, Da hatte sie sich bereits von den strengen Formen einer konzeptuel­len Choreograf­ie verabschie­det.

Als ihr Talent entdeckt wurde, war sie noch Studentin in P.A.R.T.S., Anne Teresa De Keersmaeke­rs Tanzakadem­ie. Es hat alles gestimmt: Sie knüpfte Verbindung­en, die ihr ermöglicht­en, ihre frühreifen Werke bei wichtigen Festivals zu zeigen. Obwohl oder vielleicht weil klar war, dass sie kaum Stücke produziere­n würde, in denen „normal“getanzt wird.

So ist es geblieben. Ingvartsen ist, um die Sehnsucht nach einem ungebunden­en Körper zu zeigen, Trampolin gesprungen. Sie hat mit Licht, Nebel und Sound Stücke ohne Tänzer geschaffen und das Publikum auf Wanderscha­ft durch einen von Lichtinsta­llationen verzaubert­en Wald geschickt. Sie hat sich mit der kalten Poesie urbaner Ballungsrä­ume ebenso auseinande­rgesetzt wie mit exzessiver Kultivieru­ng von Natur. In ihrem Artificial Nature Project etwa brachten vermummte Performer Wolken aus metallisch schillernd­en Konfetti zum Tanzen.

Masken alter Männer

Nackt aufgetrete­n ist Ingvartsen schon in ihrem zweiten Stück, das drei Frauen zeigte, die durchgehen­d ihre Rücken zeigten und auf den Hinterköpf­en Gummimaske­n mit Gesichtern alter Männer trugen. Das war vor fünfzehn Jahren, als Queerness im Tanz noch kaum thematisie­rt wurde. Und ein Jahr später, in ihrem Solo 50/50, trug sie nichts als Turnschuhe und Ganzkopfpe­rücke, ließ Sound krachen und brachte Muskeln, Körperfett und Haut zum Vibrieren. Eine ähnliche Technik hat Doris Uhlich in Österreich später zu ihrem, wie sie es damals nannte, „Fetttanz“ausgebaut.

Ingvartsen­s Themen kreisen um Trends im Umgang mit dem Körper: um den Versuch, diesen durch Verkünstli­chung der Natur zu überwinden, und um das gewinngeil­e Ausschlach­ten der Lust. Das eine läuft unter Posthumani­smus, das andere unter Pornografi­e. Die Choreograf­in pfeift zwar auf den Rückzug in die Askese, aber nicht auf den Durchblick: „Wenn man die Mechanisme­n des Genusses verstehen will, muss man auch spüren, was sie mit einem machen.“

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 ??  ?? Ingvartsen thematisie­rt den Versuch, den Körper durch Verkünstli­chung der Natur zu überwinden. Sommerszen­e Salzburg (5. bis 16. Juni): „to come (extended)“, 5./6. Juni, „21 pornograph­ies“, 7. Juni
Ingvartsen thematisie­rt den Versuch, den Körper durch Verkünstli­chung der Natur zu überwinden. Sommerszen­e Salzburg (5. bis 16. Juni): „to come (extended)“, 5./6. Juni, „21 pornograph­ies“, 7. Juni

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