Aufbegehren im asiatischen Machoparadies
Die MeToo-Bewegung hat Südkorea mit Verspätung erreicht, wird aber immer lauter. In dem in Geschlechterfragen rückständigen Staat werden zusehends mehr Bereiche von der Debatte erfasst.
An einem smogverhangenen Frühlingstag haben sich mehrere Hundert junge Frauen auf dem Seouler Gwanghwamun-Platz vor einer improvisierten Bühne versammelt. Dass die meisten von ihnen weiße Gesichtsmasken tragen, ist nicht der Luftverschmutzung geschuldet, sondern ihrem Wunsch nach Anonymität. Eine Mittzwanzigerin betritt mit gesenktem Kopf die Bühne, räuspert sich und spricht ins Mikrofon: „Ich wurde sexuell belästigt von einem Mann Mitte 40. Es geschah nur wenige Meter von hier entfernt, als wir im letzten Jahr gegen unsere Ex-Präsidentin demonstrierten. Noch immer habe ich Angst, wenn ich nachts Männern auf der Straße begegne.“
Nach ihrer fünfminütigen Rede klatscht das Publikum, das mittlerweile um mehrere Dutzend Schaulustige angewachsen ist. Bis in die tiefen Nachtstunden werden noch fast 200 weitere Rednerinnen von ähnlich traumatischen Fällen sexueller Gewalt und Diskriminierung berichten.
Wer in Südkorea lebt, bekommt sie fast täglich in Tischgesprächen von Frauen erzählt: Angestellte werden aus dem Job gemobbt, nachdem sie schwanger geworden sind. Studentinnen werden vom Professor aufgefordert, mit möglichst kurzem Rock in den Unterricht zu kommen. Viele berichten auch von körperlicher Gewalt durch ihren Partner. Dass jene Geschichten jedoch nun im Rahmen eines Marathonprotests mitten im Seouler Stadtzentrum öffentlich vorgetragen werden, hat es bislang noch nicht gegeben.
Die MeToo-Debatte setzte in Südkorea zwar etwas verspätet ein, doch sie hat in den vergangenen Wochen die Gesellschaft komplett aufgerüttelt: Täglich werden neue Belästigungsvorwürfe gegen Politiker, Regisseure, Pastoren, Professoren, Ärzte und Schauspieler öffentlich. Erstmals sprach die Staatsanwältin Seo Ji-hyeon Ende Jänner öffentlich darüber, wie sie vor acht Jahren von einem Vorgesetzten während einer Beerdigung begrapscht wurde – und nach einer eingebrachten Beschwerde kurzerhand in die Provinz versetzt wurde. Dies löste eine Lawine an Solidaritätsbekundungen aus, seither wurden fast alle gesellschaftlichen Bereiche von der MeTooBewegung erfasst.
Politik, Kunst, Wissenschaft
Einer der aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten für die nächsten Wahlen trat zurück, nachdem seine Sekretärin ihn der wiederholten Vergewaltigung beschuldigt hatte. Der renommierte Regisseur Kim Ki-duk – bis heute hofiert von europäischen Arthouse-Festivals – wurde ebenfalls von mehreren Schauspielerinnen der Vergewaltigung bezichtigt. Oder Ko Un, der wohl berühmteste zeitgenössische Schriftsteller des Landes – er soll mehrere jüngere Kolleginnen systematisch beläs- tigt haben. Seine Gedichte wurden inzwischen aus Schulbüchern entfernt. Auch viele Kirchengemeinden und Universitäten wurden in den vergangenen Monaten von Fällen sexueller Gewalt erschüttert.
„In der Vergangenheit hat niemand uns Frauen zugehört. Mittlerweile haben wir das Selbstbewusstsein, unsere Meinung kundzutun“, sagt die Mittvierzigerin Jeong Sae-gyeong. Sie ist am Internationalen Frauentag in die Seouler Innenstadt gezogen, um mit mehreren Hundert Aktivistinnen für Gleichberechtigung zu demonstrieren. Viele von ihnen halten Plakate mit der Aufschrift „#MeToo“in die Luft. Sie verteilen weiße Rosen an Passantinnen, an denen Flyer mit Beratungshotlines für Opfer sexueller Gewalt angebracht sind.
Die hochmodernen Glastürme der koreanischen Hauptstadt, der trendige K-Pop und die wohl fortschrittlichste Internettechnologie weltweit können leicht verschleiern, dass der hochentwickelte Industriestaat Südkorea in Geschlechterfragen noch immer äußerst rückständig ist. Laut dem Gender-Gap-Bericht des Weltwirtschaftsforums 2017 rangiert Südkorea nur auf dem 118. Platz von insgesamt 144 Ländern – abgeschlagen hinter Indien, Äthiopien und Tunesien.
Die Liste lässt sich endlos fortführen: Die geschlechterspezifische Einkommensschere ist in Südkorea am höchsten unter allen OECD-Ländern, Frauen verdienen nur 63 Prozent des Einkommens im Vergleich zu Männern. Überhaupt sind nur 56 Prozent im Arbeitsmarkt – viele werden nach der Schwangerschaft zur Kündigung gedrängt. In den Vorständen der koreanischen Unternehmen sind 98 Prozent aller Geschäftsführer männlich. Nicht einmal jedes fünfte Mandat in der Nationalversammlung wird von einer Politikerin getragen.