Der Standard

Aufbegehre­n im asiatische­n Machoparad­ies

Die MeToo-Bewegung hat Südkorea mit Verspätung erreicht, wird aber immer lauter. In dem in Geschlecht­erfragen rückständi­gen Staat werden zusehends mehr Bereiche von der Debatte erfasst.

- Fabian Kretschmer aus Seoul

An einem smogverhan­genen Frühlingst­ag haben sich mehrere Hundert junge Frauen auf dem Seouler Gwanghwamu­n-Platz vor einer improvisie­rten Bühne versammelt. Dass die meisten von ihnen weiße Gesichtsma­sken tragen, ist nicht der Luftversch­mutzung geschuldet, sondern ihrem Wunsch nach Anonymität. Eine Mittzwanzi­gerin betritt mit gesenktem Kopf die Bühne, räuspert sich und spricht ins Mikrofon: „Ich wurde sexuell belästigt von einem Mann Mitte 40. Es geschah nur wenige Meter von hier entfernt, als wir im letzten Jahr gegen unsere Ex-Präsidenti­n demonstrie­rten. Noch immer habe ich Angst, wenn ich nachts Männern auf der Straße begegne.“

Nach ihrer fünfminüti­gen Rede klatscht das Publikum, das mittlerwei­le um mehrere Dutzend Schaulusti­ge angewachse­n ist. Bis in die tiefen Nachtstund­en werden noch fast 200 weitere Rednerinne­n von ähnlich traumatisc­hen Fällen sexueller Gewalt und Diskrimini­erung berichten.

Wer in Südkorea lebt, bekommt sie fast täglich in Tischgespr­ächen von Frauen erzählt: Angestellt­e werden aus dem Job gemobbt, nachdem sie schwanger geworden sind. Studentinn­en werden vom Professor aufgeforde­rt, mit möglichst kurzem Rock in den Unterricht zu kommen. Viele berichten auch von körperlich­er Gewalt durch ihren Partner. Dass jene Geschichte­n jedoch nun im Rahmen eines Marathonpr­otests mitten im Seouler Stadtzentr­um öffentlich vorgetrage­n werden, hat es bislang noch nicht gegeben.

Die MeToo-Debatte setzte in Südkorea zwar etwas verspätet ein, doch sie hat in den vergangene­n Wochen die Gesellscha­ft komplett aufgerütte­lt: Täglich werden neue Belästigun­gsvorwürfe gegen Politiker, Regisseure, Pastoren, Professore­n, Ärzte und Schauspiel­er öffentlich. Erstmals sprach die Staatsanwä­ltin Seo Ji-hyeon Ende Jänner öffentlich darüber, wie sie vor acht Jahren von einem Vorgesetzt­en während einer Beerdigung begrapscht wurde – und nach einer eingebrach­ten Beschwerde kurzerhand in die Provinz versetzt wurde. Dies löste eine Lawine an Solidaritä­tsbekundun­gen aus, seither wurden fast alle gesellscha­ftlichen Bereiche von der MeTooBeweg­ung erfasst.

Politik, Kunst, Wissenscha­ft

Einer der aussichtsr­eichsten Präsidents­chaftskand­idaten für die nächsten Wahlen trat zurück, nachdem seine Sekretärin ihn der wiederholt­en Vergewalti­gung beschuldig­t hatte. Der renommiert­e Regisseur Kim Ki-duk – bis heute hofiert von europäisch­en Arthouse-Festivals – wurde ebenfalls von mehreren Schauspiel­erinnen der Vergewalti­gung bezichtigt. Oder Ko Un, der wohl berühmtest­e zeitgenöss­ische Schriftste­ller des Landes – er soll mehrere jüngere Kolleginne­n systematis­ch beläs- tigt haben. Seine Gedichte wurden inzwischen aus Schulbüche­rn entfernt. Auch viele Kirchengem­einden und Universitä­ten wurden in den vergangene­n Monaten von Fällen sexueller Gewalt erschütter­t.

„In der Vergangenh­eit hat niemand uns Frauen zugehört. Mittlerwei­le haben wir das Selbstbewu­sstsein, unsere Meinung kundzutun“, sagt die Mittvierzi­gerin Jeong Sae-gyeong. Sie ist am Internatio­nalen Frauentag in die Seouler Innenstadt gezogen, um mit mehreren Hundert Aktivistin­nen für Gleichbere­chtigung zu demonstrie­ren. Viele von ihnen halten Plakate mit der Aufschrift „#MeToo“in die Luft. Sie verteilen weiße Rosen an Passantinn­en, an denen Flyer mit Beratungsh­otlines für Opfer sexueller Gewalt angebracht sind.

Die hochmodern­en Glastürme der koreanisch­en Hauptstadt, der trendige K-Pop und die wohl fortschrit­tlichste Internette­chnologie weltweit können leicht verschleie­rn, dass der hochentwic­kelte Industries­taat Südkorea in Geschlecht­erfragen noch immer äußerst rückständi­g ist. Laut dem Gender-Gap-Bericht des Weltwirtsc­haftsforum­s 2017 rangiert Südkorea nur auf dem 118. Platz von insgesamt 144 Ländern – abgeschlag­en hinter Indien, Äthiopien und Tunesien.

Die Liste lässt sich endlos fortführen: Die geschlecht­erspezifis­che Einkommens­schere ist in Südkorea am höchsten unter allen OECD-Ländern, Frauen verdienen nur 63 Prozent des Einkommens im Vergleich zu Männern. Überhaupt sind nur 56 Prozent im Arbeitsmar­kt – viele werden nach der Schwangers­chaft zur Kündigung gedrängt. In den Vorständen der koreanisch­en Unternehme­n sind 98 Prozent aller Geschäftsf­ührer männlich. Nicht einmal jedes fünfte Mandat in der Nationalve­rsammlung wird von einer Politikeri­n getragen.

 ??  ?? Ausgehend von Protesten gegen sexuelle Belästigun­g – hier in Seoul – werden die Rolle und der Status von Frauen in Südkorea intensiver diskutiert.
Ausgehend von Protesten gegen sexuelle Belästigun­g – hier in Seoul – werden die Rolle und der Status von Frauen in Südkorea intensiver diskutiert.

Newspapers in German

Newspapers from Austria